Louise Spielsbury/Hanane Kay: Wie ist es, wenn es Krieg gibt? Alles über Konflikte

Geschehnisse wie der Angriff Russlands auf die Ukraine werfen viele Fragen auf – für uns alle, für Kinder umso mehr. Dieses, im englischen Original 2017 erschienene, Bilderbuch bietet in Bild und Text hilfreiche Antwortversuche an, um Kindern ab dem höheren Kindergartenalter beim gemeinsamen Betrachten die Auseinandersetzung mit diesen komplexen Themen zu erleichtern. Auf Doppelseiten, die die Grausamkeiten der Realität nicht verschweigen, ohne dabei unnötig blutrünstig zu werden, werden zunächst zentrale Aspekte in ganz einfachen Worten erklärt: Was ist Krieg? Was passiert in Konflikten? Dann wird mit konkreten Beispielen auf die Folgen eingegangen: Menschen müssen ihre Heimat verlassen, Kinder können nicht mehr in die Schule gehen. Dann wird schließlich, was ja gerade für jüngere Kinder beim Einordnen und Bewältigen der Geschehnisse ganz wichtig ist, auf das eingegangen, was trotzdem Gutes geschieht: Die Vereinten Nationen und die Regierungen versuchen, die beteiligten Gruppen für Gespräche zusammenzubringen. Auch im Kleinen kann den Opfern von Krieg und Vertreibung geholfen werden. Und schließlich: Denk dran: Es gibt eine ganze Menge kluger Leute, die hart daran arbeiten, Kriege und Terror zu beenden, um die Welt zu einem sicheren Ort für uns alle zu machen.
Gabriel 2019.
32 S.

Romana Romanyschyn und Andrij Leesiw: Als der Krieg nach Rondo kam

Der Krieg kommt in die Stadt.
Auf der reinen Textebene erscheint dieser Umbruch beinahe prosaisch. Im Bild jedoch verwandelt sich die blühende Stadt Rondo, in der alles hell, verschlungen und grazil erscheint, mit dem Umblättern in ein grafitgraues Nichts, über das sich das sich bedrohliches schwarz ergießt.
Der Krieg wird zum bedrohlichen Dunkel. Er kriecht wortwörtlich aus allen Löchern und lässt dort „die schwarzen Blumen der Vernichtung wachsen“, wo zuvor die vielgestaltigen Kelche der Gewächshauspflanzen für das blühende Leben gestanden haben. Unter dem Eindruck der Krim-Annexion (das Original ist bereits 2015 entstanden) erzählen die beiden ukrainischen Künstler*innen eine allegorische Geschichte und folgen dabei drei anthropomorhen Fantasiefiguren: dem Glühbirnenmännchen Danko, dem pinken Pudel Fabian und dem Papiervogelmädchen Sirka. Damit wird Krieg nicht als konkretes politisches (oder historisches) Ereignis dargestellt, sondern vielmehr danach gefragt, wie Krieg sich anfühlt. Was Krieg an sich bedeutet. In poetischen Bildern, die auf klare Formen und spiegelbildliche Symbolik setzen, zeigen sich die Wunden, die der Krieg der Stadt Rondo zufügt. Zeigt sich aber auch die die widerständige Kraft einer Gemeinschaft, in der Eigenverantwortung zum kollektiven Handeln führt.
Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe und Oksana Semenets
Gerstenberg 2022.
o. S.

Elzbieta: Floris & Maja

Es ist Krieg. Und die beiden Kinder, die einander jeden Tag gesehen haben, miteinander gespielt haben, einander geliebt haben, dürfen einander nicht mehr sehen. Denn zwischen ihrer beider Häuser liegt nun ein Stacheldraht. Man darf nur noch flüstern. Der Krieg selbst aber macht unglaublichen Lärm.
Erstmal bereits 1994 erschienen wird die so stille Geschichte nun neu aufgelegt. Alles hier erscheint sanft und zerbrechlich und steht damit in berührendem Kontrast zu den schrecklichen Ereignissen, die stattfinden. Zum besonderen Erscheinungsbild trägt dabei auch die Buchgestaltung bei: In kleinem Format werden einander knappe Textpassagen im Großdruck und zart marmorierte Bilder gegenübergestellt. Dur deren Rahmung entsteht der Eindruck, man selbst würde am Fenster stehen und hinaus blicken auf die Ereignisse – oder hinein in jene Häuser, in denen die beiden anthropomorphisierten Kaninchenfiguren zurückbleiben. Die Konstante der Bildgestaltungen täuscht dabei nicht darüber hinweg, dass durch den Krieg nichts bleibt wie es war. Auch wenn Floris und Maja einander jenseits der Stacheldrahtzeit wiederfinden.
Aus dem Französischen von Barbara Haupt
Moritz 2022.
33 S.

Heinz Janisch/Aljoscha Blau: Die Schlacht von Karlawatsch

Anfangs herrscht noch friedliches Nebeneinander. Doch bald schon setzt Aufregung und Zwist ein: Erste Rüstungen werden angelegt, schwere Stiefel übergezogen.  Plötzlich sind zwei Parteien entstanden, dargestellt auf durchgängig weißem Hintergrund, die einen in blauer, die anderen in roter Kleidung. „Und dann rückten sie vor.“ Nur eine Kleinigkeit ist es also, die zu Eskalation führt und dafür sorgt, dass mit Hüten, Knöpfen, Jacken, Hosen, Stiefeln, Schuhen, Socken gekämpft wird; so lange, bis niemand mehr zwischen Freund*in und Feind*in unterscheiden kann. Heinz Janisch spricht in deutlichen Worten von Kampf und Krieg und deren Sinnlosigkeit, jedoch ohne dabei auf seine gewohnt poetisch-stimmigen Metaphern zu verzichten. Während Aljoscha Blau mit Gouache arbeitet, Schicht für Schicht Rot- und Blautöne aufträgt, diese mit Steingrau kombiniert und so eigenwillige Strukturen schafft. Gemeinsam zeigen sie die tiefe Verzweiflung und Brutalität, das ganze Gewicht dieser Auseinandersetzung, um es letztendlich bewundernswert in Leichtigkeit umzuwandeln.
Atlantis 2018.
32 S
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Tobias Krejtschi: Manchmal ist da einer

Warum gibt es Krieg? Wer ist daran schuld? Und wie kann er beendet werden? An diese grundlegenden Fragen schließen sich bei einer Darstellung des Themas im Bilderbuch noch Fragen der Gestaltung an: Wie können die verschiedenen Akteur*innen dargestellt werden, ohne Partei zu ergreifen oder durch Stereotype zu diskriminieren? Bilderbuchkünstler Tobias Krejtschi greift hier zu einem simplen, aber umso genialeren Stilmittel: Die handelnden Personen sind ausschließlich anthropomorphisierte geometrische Figuren, genauer gesagt Kreise und Vierecke. Im Text, der ebenfalls aus seiner Feder stammt, wird ganz auf das Element des „wir“ gesetzt: Die meisten von uns möchten glücklich mit allen zusammenleben. Doch auf beigen Doppelseiten beginnt das Unglück seinen Lauf zu nehmen: „Aber manchmal ist da einer, der will keinen Frieden.“, und er wirkt als riesiges dunkelblaues Viereck auch ziemlich bedrohlich. In weiterer Folge wird die Eskalation beschrieben, aber auch die unterschiedlichen Folgen, die ein solcher Konflikt hat, von der Notwendigkeit zu fliehen bis hin zur seelischen Belastung durch die Angst vor dem Krieg. Das Buch endet dennoch optimistisch-versöhnlich, wenn gezeigt wird, wie Wege aus dem Konflikt gelingen – und was wir alle dazu beitragen können.
arsEdition 2022.
40 S.

Sarah Michaela Orlovský und Monika Maslowska: Maulwurf und ich

Ich frage mich, wie der Erdwerfer wohnt. Ausgehend vom Leben eines Maulwurfs, der sich Schaufelhand um Schaufelhand seinen Wohnraum im Erdreich schafft, wird in diesem Bilderbuch ein Blick auf einen etwas anderen und weniger beleuchteten Aspekt von Konflikten und Krieg geworfen: der Schutzraum unter der Erde. In Analoge zu einem Maulwurf, der mit Vorrats- und Wasserkammer unter der Erde lebt, zeichnet die österreichische Autorin das Leben der Ich-Erzählerin nach, die – durch einen Krieg – mit ihrer Familie dazu gezwungen wurde, Schutz im Keller zu finden. Zunächst wird von einem Maulwurf erzählt – Handschmeichler und Seelenschmeichler –, der im Sommer im Garten gesehen wurde. Und man hofft darauf, dass man ebendiesen, nach dem Leben im schützenden Keller, in dem Freund*innen vermisst werden, man aber in Sicherheit ist, wiederseht. Die kurzen einprägsamen Sätze zeigen im Zusammenspiel mit den Illustrationen, die mit Acryl, Aquarell und Bleistift gezeichnet sind, die Beklommenheit gleichermaßen wie die Dankbarkeit für einen sicheren Ort während eines Krieges und den Hoffnungsschimmer auf bessere Zeiten.
Tyrolia 2022.
26 S.



Claude K. Dubois: Akim rennt

Still und zurückgenommen entfaltet die belgische Illustratorin Claude K. Dubois ein Szenario von Krieg: Ihr Blick richtet sich dabei auf die Krisenregion des Kaukasus – wobei dabei weniger eine konkrete zeitgeschichtliche Verortung, als vielmehr eine Lenkung des Blicks auf die Peripherien des Weltgeschehens vorgenommen wird. Wenn jeder Christ und jede Christin aufgefordert ist, den Mut zu haben, Randgebiete zu erreichen, wie Papst Franziskus es in Evangelii Gaudium formuliert hat, erfordert das auch das Bemühen, das Erleben jener zu begreifen, die aus dem geordneten Miteinander herausfallen. Die Künstlerin wählt das Mittel der Bildsprache, sie stellt jedes Bild auf eine Seite und ordnet sie dennoch sequenziell an. Kurzen Textpassagen schließen sich skizzenhafte Bildfolgen an, die wie das Storyboard einer Reflexion über das individuelle Schicksal eines Kindes im Krieg wirken. Man folgt in den grau-braun getönten Buntstiftzeichnungen Akim, seiner Verzweiflung, seiner Einsamkeit in der Konfrontation mit einem Bombenangriff auf sein Dorf. In der letzten Bildsequenz schließlich findet Akim seine Mutter wieder – und mit ihr jene Heimat, Geborgenheit und Zugehörigkeit, auf die jedes Kind ein Recht haben sollte. Ein politisches Bilderbuch, das seine Bedeutung gerade im Kontext europäischer Flüchtlings-und Asylpolitik entfaltet.
Aus dem Franz. v. Tobias Scheffel.
Moritz 2013.
48 S
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Karin Gruß/Tobias Krejtschi: Der rote Schuh

Den Opfern eine Identität geben. Dies ist die Intention eines Fotoreporters im Israelisch-Arabischen Konflikt. Nach einem Bombenanschlag auf einen Schulbus gerät im Krankenhaus ein roter Basketballschuh in den Fokus des Journalisten, der den Blick durch die Kamera lange Zeit nicht von diesem symbolstarken Zeichen abwenden kann. Dieser Eindruck wird im Bilderbuch durch den roten Kontrast zu den in grau gehaltenen Seiten verstärkt. Während auf der Bildebene die Individualisierung des Jungen, der an Kopf und Bein verletzt wurde, über den Schuh stattfindet, wird im Text Identität durch die Namensgebung gestiftet: „Er heißt Kenan.“ Die subjektivierte Perspektive durch die Kamera führt junge Betrachter*innen nah an die Figuren heran und lässt bei genauerer Betrachtung Zeitungsausschnitte im Kleidungsmaterial, die Psyche des Berichterstatters und die hellen Momente der Hoffnung erkennen. Beispielhaft wird ein ungeschönter Blick auf eine Szene von Zerstörung und Schmerz geworfen – und damit angeregt, über mediale Darstellungen von Krieg und ihre Gewöhnungseffekte nachzudenken.
Boie 2013.
32 S.



Issa Watanabe: Flucht

Dramatische Szenen über Flucht brauchen wenig Worte. In diesem Fall gar keine, wenn sich eine bunt zusammengewürfelte Schar von anthropomorphen Tierwesen auf die Flucht begibt: woher diese kommen und wieso sie auf der Flucht sind, spielt dabei keine Rolle.  Die Willkür, warum jemanden ein solches Schicksal ereilen kann, zeigt sich in der Zusammensetzung der Gruppe: selbst die Stärksten (Elefant, Nashorn oder Löwe) sind gegen Entwurzelung und Vertreibung aus ihrer Heimat – wo auch immer diese gelegen haben mag – machtlos. Die aufgerufenen Bilder wirken dadurch umso eindrücklicher: Ein überfülltes Flüchtlingslager, ein Schlauchboot am Meer, das sinkt und schließlich das mit Müh und Not an den Strand retten, nur um zu begreifen, dass es nicht alle Bootsinsass*innen geschafft haben. Die begleitende Hoffnungslosigkeit oder der omnipräsente Tod wird durch ein Totenkopfmännchen dargestellt, dass mal ebenbürtig, mal über sie erhaben mit der Gruppe wandert. In der Reduziertheit des Hintergrunds und der Detailiertheit der gezeigten Szenen wirken die Bilder eindrücklich, bedrückend und zugleich hoffnungsfroh, wenn die Farbe (rosa-)rot als Kontrast zu dem vielen Schwarz zum Einsatz kommt und das Ende der Flucht markiert.
Hanser 2020.
40 S.

Francesca Sanna: Die Flucht

Das in der Tagespolitik und Kinderliteratur immer wieder sehr präsente Thema Flucht wird hier von einer jungen sardischen Künstlerin mit einem bemerkenswerten Fokus umgesetzt: Im Zentrum ihrer Bilder, für die sie mit verschiedensten Materialien haptisch und digital experimentierte, steht stets die Stärke jener Menschen, die diesen Schritt wagen. Wagen müssen. Der Krieg, der die kindliche Erzählstimme in der Ich-Perspektive und ihre Familie zur Flucht zwingt, wird in tiefem Schwarz dargestellt. In wenigen ausdrucksstarken Sätzen werden die Erlebnisse und Erfahrungen auf der Flucht umrissen. Die Bewegung der Flucht zieht sich gleichsam der Lesebewegung durch die längsformatigen Doppelseiten des Bilderbuchs von links nach rechts. Die Hoffnung auf ein Ankommen wird einen Lichtschimmer gleich in den dunkel gehaltenen Illustrationen integriert.
Dieses Debut, das mit der Goldmedaille der Society of Illustrators in New York, sozusagen dem Oscar der Illustration, ausgezeichnet wurde. „Auf Bilder kann man zeigen, Worte sind nur Stellvertreter” hat Francesca Sanna in einem Gespräch formuliert – Worte, die durch ihr Buch bestätigt wird, das den gekonnten Umgang mit Bildsprache und Farbigkeit zeigt.
Aus dem Engl. v. Thomas Bodmer.
NordSüd 2016.
41 S.



Kirsten Boie: Heul doch nicht, du lebst ja noch

Die Kindheit der Autorin war geprägt von Erzählungen über Bombennächte, Hunger und Angst. Nach der Erscheinung war nicht daran zu denken, dass nur wenige Monate danach Menschen in Europa wieder Ähnliches erleben müssen. Die Romanhandlung setzt im Juni 1945 ein. Im zerbombten Hamburg herrscht Chaos, Strukturen wie Versorgung mit Nahrungsmitteln fehlen. Der Text erzählt in wechselnden Perspektiven von drei Jugendlichen, die der Krieg auf unterschiedlich beschädigte Weise zurückgelassen hat: Hermann leidet darunter, dass sein Vater im Krieg beide Beine verloren hat und nun das Leben der Familie dominiert. Jakob wurde nach der Deportation seiner jüdischen Mutter versteckt und hat noch gar nicht mitbekommen, dass die Besatzungsmächte regieren. Traute wiederum ist genervt von der Familie, die in ihrer Wohnung einquartiert ist. Ein Zufall lässt die drei Figuren aufeinandertreffen. Je mehr sie voneinander erfahren, desto mehr setzt die Erkenntnis ein, dass auch andere Menschen schlimme Erfahrungen machen mussten. Und natürlich die bittere Einsicht, all die Jahre einer Propagandamaschinerie aufgesessen zu sein. Auch die Figurenkonstellation überzeugt: Es gibt keine Liebesgeschichte, nicht einmal eine Freundschaft, die drei treffen in einer Ausnahmesituation aufeinander und lernen voneinander. Dennoch steht am Ende die Hoffnung: Alles ist anders. Und wer weiß. Vielleicht wird wirklich alles gut.
Oetinger 2022.
176 S.

Kathleen Vereecken: Alles wird gut, immer

Ypern ist eine Stadt in Westflandern. In beiden Weltkriegen lag Ypern mit Blick auf die so genannte Westfront an strategisch wichtiger Stelle. 1914 hegt der Vater der 12jährigen Alice noch die Hoffnung, dass es sich hier „um das sicherste Eck Belgiens“ handelt. Wenig später jedoch reichen die Kriegshandlungen in all ihrer Heftigkeit bis hierher und die Familie von Alice befindet sich von da an im permanenten Ausnahmezustand: Raketenangriffe, Tod, Kälte, Heimatlosigkeit, Hunger, Angst und Ungewissheit werden zu ständigen Begleiter*innen. In ihrem sehr poetischen Text lässt die niederländische Autorin ihre Hauptfigur dennoch nicht unter der Last der Ereignisse zusammenbrechen. Vielmehr wählt sie mit Hilfe einer konsequenten Ich-Perspektive einen kindlich-naiven Blick und schildert unaufgeregt das eigentlich Unvorstellbare. Sprachliche Genauigkeit und große Ehrlichkeit prägen den Erzählstil und zeigen, mit welcher Geschwindigkeit Alice angesichts der Grausamkeiten des Krieges erwachsen werden muss. Dabei aber trotz allem immer an ihrem positiven Blick auf die Welt festhält.
Mit Bildern von Julie Völk.
Aus d. Niederländ. v. Meike Blatnik
Gerstenberg 2021.



Jane Teller: Krieg. Stell dir vor, er wäre hier.

Das schmale, aber gewichtige Büchlein entwirft ein Was-wäre-wenn-Szenario, in dem die Auswirkungen eines möglichen Zusammenbruchs der Europäischen Union erörtert werden. Die immer noch aktuell diskutierte Flüchtlingssituation wird dabei verkehrt: Europäer*innen suchen in arabischen Ländern Asyl, um dem Krieg in ihrem Land zu entfliehen. Ergebnis sind zerrissene Familien, der Kampf um Arbeitsgenehmigungen und Verständigungsprobleme. Das Leben als „Mensch dritter Klasse“ wird mit hoher Authentizität geschildert und durch die intensiven, teils abstrakten Illustrationen noch verstärkt. Dieses Gedankenspiel eröffnet eine spannende neue Perspektive und bringt ein potentielles Schicksal vielleicht näher an Lesende heran, als es das tagespolitische Geschehen vermag. Flucht und deren Gründe werden sachlich nachvollziehbar gemacht, ohne auf Mitgefühl zu verzichten. Besonders bemerkenswert ist auch, dass die verschiedenen Übersetzungen des ursprünglich dänischen Textes an die jeweiligen geopolitischen Situationen angepasst wurden. Vom Verlag gibt es umfangreiche Unterrichtsmaterialien zum Buch.
dtv Reihe Hanser 2015.
64 S.

Alan Gratz: Vor uns das Meer

Drei Jugendliche im Alter zwischen elf und 13 Jahren begeben sich in drei Jahrzehnten aus unterschiedlichen Gründen auf ihre ganz persönliche Flucht aus ihren Heimatländern Deutschland, Kuba und Syrien. Der/die Leser*in folgt in drei voneinander entkoppelten Erzählsträngen Josef 1938 auf der Flucht vor den Nazis, Isabel 1993 vor den Zuständen in Kuba unter Fidel Castro und Mahoumad 2015 vor dem IS und dem Assad-Regime aus Aleppo. Durch individuelle und der Kultur sowie Religion entsprechender Charakterzüge erhalten die Figuren Tiefe, wenn von sinkenden Schiffen, verwehrten Grenzübertritten, Gewalt und Tod erzählt wird, wobei das Erwachsen werden und das Gefühl von familiärer sowie sozialer Zugehörigkeit und dem Unverständnis für die jeweiligen Täter*innen ein breiter Raum einnehmen. Erfreulich unsentimental zeigt der US-Amerikanische Autor auf, dass Flucht immer schon Thema war und wahrscheinlich leider auch immer sein wird.
In einem ausführlichen Nachwort werden die politischen und historischen Gegebenheiten für junge Leser*innen aufgedröselt und mithilfe von Karten die Fluchtrouten nachgezeichnet. An dessen Seite werden ganz konkrete Dinge, die man selbst tun kann, um Flüchtlingen zu helfen, gestellt.
Aus d. Engl. v. Meritxell Janina Piel.
Hanser 2020.
304 S.



Meg Rosoff: So lebe ich jetzt

Irritierend, fesselnd, vielschichtig und doch auf das Wesentliche konzentriert, bricht dieser Roman mit Konventionen der Textgestaltung und schafft ein stimmiges Zusammenspiel formaler und inhaltlicher Aspekte. Das Cover verleitet, an eine ironisch-leichte Liebesgeschichte zu glauben. Und tatsächlich wird mit viel Temperament in Retrospektive das erste Verlieben der 15-jährigen Daisy aus New York erzählt, die für den Sommer aus der Großstadt zu ihren Verwandten in die Peripherie verbannt wurde. Noch nie zuvor hat Daisy Menschen wie Isaak, Osbert und die kleine Piper getroffen. Und vor allem niemand wie ihren Cousin Edmond … Doch nach und nach schieben sich Elemente von Terror, Angst und Krieg in den rückblickenden Erzählfluss und die bewusst reduzierte Interpunktion verdeutlicht den physischen und psychischen Überlebenskampf. Es ist ein Sommer, der das persönliche Leben und die Welt verändert. Dabei unterbricht der jugendliche Humor des Erzählduktus immer wieder die tragischen Geschehnisse, die unbestimmt bleiben und dadurch sehr universalen Charakter haben. Trotzdem – oder gerade deshalb – ist dieser Roman ein literarisch faszinierendes Zeugnis des Lebens in all seinen sonderbaren, schmerzhaften, tröstenden und liebevollen Facetten.
Aus d. Engl. v. Brigitte Jakobeit.
Fischer 2014 [EA 2004].
208 S.

Joke van Leeuwen: Als mein Vater ein Busch wurde und ich meinen Namen verlor

Todas Vater ist nicht mehr länger Feinbäcker. Ab jetzt ist er Soldat. Es ist Krieg in Todas Heimat und das Mädchen wird zu ihrer Mutter, an die sie sich nicht mehr erinnern kann, über die Grenze geschickt. Zuerst per organisierter Auswanderung, später ganz auf sich alleine gestellt begibt sie sich in ein fremdes Land, um dort auf eine noch fremdere Frau zu treffen. Joke van Leeuwen erzählt konsequent aus kindlich-naiver Sicht von den Etappen einer Flucht und der Unwissenheit des Mädchens ob der Krisensituation in ihrem Heimatland. Wobei niemals reale Nationen angesprochen werden – das Kriegsgeschehen bleibt abstrakt. Todas Entwurzelung wird gerade deshalb unmittelbar und durchaus beklemmend erfahrbar; durch das enthobene Szenario und die vielen zwischenmenschlichen Begegnungen auf ihrem Weg aber auch gelindert. Die konsequent verfolgte Wahrnehmung eines Kindes und die vielen Gedanken, die sich die junge Ich-Erzählerin macht, machen die Krisen einer Flucht und den Begriff der „Grenze“ schon für jüngere Leser*nnen verständlich. Auch die Illustrationen, die aus dem Text gegriffene Briefe, Notizen oder Buchseiten abbilden, verstärken die Authentizität.
Aus dem Niederländ. von Hanni Ehlers.
Gerstenberg 2012.
128 S.



Alfredo Soderguit: Die Wasserschweine im Hühnerhof

Mit seiner gewitzten Erzählung über eine hürdenreiche Freundschaft zwischen einander fremden Tierarten hat der uruguayische Autor und Illustrator eine kluge Parabel gegen Vorurteile und Fremdenfeindlichkeit geschaffen. Dass ausgerechnet die in sozialen Medien als die kuschel-freudigsten Tiere gefeierten Wasserschweine (auch: Capybaras) die Rolle der (vor Jäger*innen) flüchtenden „Anderen” übernehmen, erzeugt zusätzliche Ironie. Während die scheinbar besonders warmherzigen Wesen im Netz Freundschaften wie am Fließband schließen, haben sie es in Alfredo Soderguits Bilderbuch nicht so leicht. Grund sind die vorurteilsbehafteten Hühner, die ihren Stall frei von den unbekannten Wildtieren halten wollen. Der benötigte Schutz innerhalb des Zauns wird den Wasserschweinen nur unter strengen Auflagen gewährt. Dass die wahre Gefahr aber nicht von außen, sondern von den (Haus-)Tieren aus den eigenen Kreisen ausgeht, wird in reduzierten Textpassagen und vielsagenden Bilddarstellungen, deren feine monochrome Strichführung nur durch vereinzelte rote und braune Akzente durchbrochen wird, pointiert vorgeführt. Rettende Abhilfe schafft letztlich jene solidarische Allianz, die anfängliche Differenzen ebenso überbrückt wie sie ungeahnte neue Möglichkeiten eröffnet. 
Aus d. Span. v. Eva Roth.
Atlantis 2021.
48 S.

Lorenz Pauli und Kathrin Schärer: böse

Wir wissen: Das Böse ist immer und überall! Und es macht auch vor dem Bauernhof nicht Halt.  Obwohl die Tier-Welt am Vorsatzpapier noch in Ordnung scheint, als der sich selbst als meistens braver Hund bezeichnende Schnauzer eine Geschichte zu erzählen beginnt. Und schon gerät alles durcheinander: Der am Innentitel noch stolz und unbehelligt dahinstolzierende Hahn wird mit dem Umblättern durch ein furchterregendes Wuff aus den nicht vorhandenen Socken gehoben. Die restlichen Hühner können da nur staunen. Was ist hier passiert? Wo die humorig-grotesk inszenierten Tiere den Betrachter*innen doch bildfüllend und unschuldig entgegenblicken. Das renommierte Bilderbuch-Duo jedoch hat Spaß daran, das scheinbar Harmonische mit dem Tückischen zu kontrastieren und sorgt dabei für zahlreiche Überraschungseffekte. Das Spiel mit der Bösartigkeit wird dabei von Schwein, Ziege, Taube und schließlich einer Katze erprobt und ordentlich ausgekostet. Als aber das Pferd auf die Maus tritt, sind alle fassungslos: Zum Glück handelt es sich aber doch nur um die liebste Gemeinheit der Welt. Dennoch birgt das glückliche Ende die Möglichkeit darüber ins Gespräch zu kommen, welche Handlungsmuster hier – einfach so und ganz unvermutet – abgerufen wurden.
Atlantis 2016.
32 S.



Joanne K. Rowling. Harry Potter und die Heiligtümer des Todes

Mit der von Newt Scamander ausgehend Filmserie greift das Potterverse auf historische Ereignisse der 1930er und 1940er Jahre zurück. Das Erstarken eines schwarzmagischen Zauberers wird dabei parallel geführt zur Entstehung faschistoider Ideologien. Ein motivischer Aspekt, der in der Roman-Serie auch in die – erneute – Machtübernahme Lord Voldemorts einfließt und dazu führt, dass im finalen Band eine diktatorisches System Platz greift und in zunehmenden Reglementierungen, Verboten, Erlässen und frappanter Einschränkung der Medienfreiheit seinen Ausdruck findet. Als Second War, als zweiten, oder erneuten Krieg bezeichnet der Orden des Phoenix die Ereignisse. Aus der Perspektive Harry Potters haben sie individuelle Vereinzelung zur Folge. Der Orden, die Weasley-Familie, Harry Potters Freund*innen werden auf der Flucht vor Lord Voldemort in alle Winde zerstreut und haben keine Ahnung, wer von ihnen noch lebt. Wochenlang müssen Harry und Hermione sogar von Ron getrennt im Exil nach immer neuem Schutz suchen; während die Todesser ein engmaschiges, auf ethischer Säuberung, Unterdrückung und bedingungslosem Gehorsam gegenüber dem Dunklen Lord basierendes Terrorregime etablieren. Letztlich sind es Widerstandskraft und vor allem Loyalität, die dazu führen, dass die Macht der vermeintlich unbesiegbare Lord Voldemort (magisch) gebrochen werden kann.
Aus d. Engl. v. Klaus Fritz.
Carlsen 2011.
725 S.

Aleksandra Mizielińska und Daniel Mizieliński: Alle Welt

Der Charakter eines Atlas wird zu einem großformatigen Schauerlebnis umgewandelt: Als wäre er aus dem Schiffsbauch einer versunkenen Fregatte geborgen, breitet das kartografische
Schmuckstück handgezeichnetes Kartenmaterial großformatig aus und ermöglicht es, mit kindlich-naivem Blick durch „Alle Welt“ zu navigieren. Beginnend im hohen Norden Islands wurde für alle fünf Kontinente eine Länderauswahl getroffen, die (der Zielgruppe entsprechend) für Europa natürlich entsprechend üppiger ausfällt. (Und ja, die Ukraine findet ihren Platz.) Eine vorangestellte Übersichtskarte verortet die jeweiligen Nationen und präzisiert geografische Relationen. Denn danach herrscht (trotz Maßstabangabe) herrliche Größenordnungsanarchie. Die Ausbreitung der Länder über je eine Doppelseite schafft Platz für zahllose Bildminiaturen, mit deren Hilfe kunst- und kulturgeschichtliche Besonderheiten mit einer Fülle an Einblicken in Landschaft, Fauna und Flora kombiniert werden. Historische und gesellschaftspolitische Hierarchien scheinen dabei aufgelöst und weichen der spielerisch präsentierten Information. Dennoch resultiert aus dieser spielerischen Annäherung ein Grundverständnis für eine national bedingte Landkarte; für Grenzen und Nachbarschaften. Für eine Verortung jener Länder, auf die sich der geopolitische und tagesaktuelle Blick richtet. 
Aus d. Poln. v. Thomas Weiler.
Moritz 2018.
147 S.



Georg Langenhorst / Tobias Krejtschi: Kinderbibel. Die beste Geschichte aller Zeiten

Die Menschen hatten also nun das Paradies verloren. Für immer. Sie wussten nun, was gut und böse war. Und sie würden auch so handeln: gut, aber auch böse. Von Anfang an. Denn so wird es erzählt: So leitet der Religionspädagoge Georg Langenhorst in dieser besonderen Kinderbibel die Geschichte von Kains Brudermord aus Eifersucht ein und verweist dabei auf die Tatsache, dass Kriege und Konflikte kein Phänomen der Moderne sind, sondern die Menschheit vielmehr von Anfang an begleiten. So können auch biblische Texte bzw. hier im Besonderen deren illustratorische Aufbereitung mit jeweils einem modernen Element ein Gesprächsanlass sein, um über schwierige Fragen nachzudenken. Wie kann es sein, dass Abraham tatsächlich seinem eigenen Sohn sein (Schweizer Taschen-)messer an die Kehle setzt, weil Gott es ihm befiehlt? Warum musste Jesus so grausam am Kreuz sterben? Es ist eine der vielen Stärken dieser Kinderbibel, Geschichten von Gewalt und Schmerz nicht auszusparen, sondern angemessen zur Sprache zu bringen. Durchbrochen werden die biblischen Geschichten von dialogischen Passagen, in denen sich als Leitfiguren Maria Magdalena und Thomas einschalten. Erzählt wird nicht nur vom Krieg, sondern auch von der Hoffnung auf den Frieden: Ich sehe einen neuen Himmel und eine neue Erde.
Katholisches Bibelwerk 2019.
208 S.

Francois de Smet / Thierry Bouüaert: Die Menschenrechte

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ feierte 2018 ihr 70-jähriges Jubiläum und die Zeit zeigt immer wieder, dass es notwendig ist, sich ihre Inhalte  ins Gedächtnis zu rufen: Rassismus, Sexismus, Flucht, Terror und Gewalt sind nur einige wenige der wichtigen Themen, die in dem 1948 unterzeichneten Dokument angesprochen werden. Und dennoch stellen sich heute dieselben Fragen wie bei der Unterzeichnung: Ist es nicht selbstverständlich, dass alle Menschen von Grund auf frei und gleich an Würde sind, ein Recht auf Bildung, Meinungs- und Religionsfreiheit sowie auf Arbeit haben? Und ist uns auch bewusst, dass die Rechte auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit, auf Asyl und soziale Sicherheit sowie das Recht, jedes Land verlassen zu können, Rechte sind, die für alle Menschen gelten? Die Comic-Bibliothek des Wissens hat sich dazu verschrieben, komplizierte Wissensgebiete in Form von Comics leichter zugänglich zu machen. Dies gelingt den Verfasser*innen hier auf besondere Art:  – indem sie die Menschenrechte selbst zu Wort kommen lassen. Neben der Entstehungsgeschichte werden die einzelnen Artikel des Dokuments verständlich aufbereitet und reflektiert, was sich seit dessen Unterzeichnung verändert hat.
Aus d. Franz. v. Edmund Jacoby.
Jacoby & Stuart 2020.
88 S.