Lektorix in der Furche für das Jahr 2007
Lektorix
des Monats Dezember 2007
Martin Baltscheit: Was ist eigentlich ein Tulipan?
Ill. v. Martin Baltscheit
Tulipan 2007
Nicht Enzian, nicht Thymian...
...sondern Tulipan ist es, das Wort, um dessen Bedeutung sich in Martin Baltscheits Buch „Was ist eigentlich ein Tulipan?“ alles dreht. Die simple Frage wird von einem Kind an seinen Vater gerichtet, zwischen den beiden entspinnt sich ein längerer, immer wieder durch Alltagssituationen wie das Schlafen gehen unterbrochener Dialog, in dem allerlei Hypothesen aufgestellt werden: Ist es ein Name? Eine Blume? Oder gar ein Vogel? Der Autor erzählt die verschiedenen Antwortversuche in kurzen Texten, die zwischen Prosa und Lyrik changieren, ergänzt mit seinen scherenschnittähnlichen, farbstarken Illustrationen. Mit seinem Buch macht er dem in Berlin neu gegründeten Tulipan-Verlag ein wunderbares Geburtstagsgeschenk, das den Ansprüchen, die sich die beiden Verlegerinnen Mascha Schwarz und Sascha Simon gesetzt haben, mehr als gerecht wird: „Wir wollen etwas wagen. Wir wollen unvergessliche Bücher machen. Wir geben Nachwuchsillustratoren eine Chance und renommierten Künstlern Raum für eigene Bilderwelten. Wir verlegen frische Texte von jungen Talenten und besondere Geschichten von bekannten Autoren. Wir setzen auf Qualität. Wir nehmen kleine Leser ernst und wecken Lust am Lesen.“, so heißt es auf ihrer Homepage. In ihrem ersten Programm finden sich so renommierte Namen wie Jacky Gleich, Bruno Blume, Paul Maar, Aljoscha Blau und andere. Mit Tulipan ABC unternimmt der Verlag auch den Versuch, dem Einheitsbrei der Erstlesereihen Bücher mit etwas mehr Anspruch und Witz entgegenzusetzen, auch Erstleser*innen als Leser*innen ernst zu nehmen und mit ungewöhnlichen Geschichten die Freude am Selber-Lesen zu vermitteln. In einer Zeit, in der gerade im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur die Verlagslandschaft immer enger zu werden scheint, ist diese Verlagsgründung eine bemerkenswerte und erfreuliche Entwicklung – wir dürfen gespannt sein, was die nächsten Programme des Tulipan-Verlags bringen werden!
Kathrin Wexberg
Lektorix
des Monats Oktober 2007
Mirjam Pressler:
Golem stiller Bruder.
Weinheim: Beltz & Gelberg 2007.
Künstliche Intelligenz
Von Frankensteins namenlosem Monster bis hin zu dessen popkultureller Version in der „Rocky Horror Picture Show“ reicht die Bandbreite an fiktiven, von Menschen erschaffenen künstlichen Wesen. Selten gehen diese Geschichten gut aus - und so ist es auch in einer sehr alten Variante dieses Motivs, der jüdischen Legende vom Golem, die bereits seit dem 12. Jahrhundert überliefert wird. Von ihr erzählt die renommierte Autorin Mirjam Pressler in ihrem neuen Roman für Jugendliche. Die Kapitel werden jeweils abwechselnd als Ich-Erzählung des fünfzehnjährigen Protagonisten Jankel und in Außensicht erzählt. Da seine Tante, die sich bislang um ihn und seine Schwester gekümmert hat, schwer erkrankt ist, schlägt sich Jankel von seinem Heimatdorf ins Prag des beginnenden 17. Jahrhunderts durch und findet bei seinem Großonkel, dem berühmten Rabbi Löw, Unterschlupf. Bald entdeckt er, dass mit Josef, dem stummen Synagogendiener, der im Dachgeschoß des Hauses lebt, etwas nicht stimmt: Er ist ein Golem, ein aus Lehm erschaffener künstlicher Mensch, der die Befehle seines Herren willenlos ausführt. Doch während der Golem in anderen literarischen Darstellungen vor allem als furchteinflößendes, schreckliches Wesen fungiert, akzentuiert Pressler ihre Geschichte anders: Obwohl Jankel anfangs zutiefst erschrocken ist, entwickelt er nach und nach Sympathie für Josef. In der zunehmend aufgeheizten antisemitischen Stimmung, in der es immer öfter zu Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung kommt, ist der Golem mit seinen übermenschlichen Kräften zunächst eine Beschützerfigur –bis seine Kräfte außer Kontrolle geraten. Pressler bleibt in den Grundzügen ihrer Geschichte sehr nah an der ursprünglichen Legende und findet doch durch ihre jugendlich-naive Hauptfigur einen ganz eigenständigen Tonfall. Aus Jankels Sicht erzählt, erhält die existentielle Bedrohung, der die Menschen im jüdischen Viertel durch perfide Verleumdungen, aber auch zunehmend durch Gewalttaten ausgesetzt sind, besondere Eindringlichkeit. Sehr gelungen erscheint darüber hinaus die Einbeziehung von zahlreichen Elementen aus dem jüdischen Glauben und Alltag, die stimmig in die Handlung integriert werden.
Kathrin Wexberg
Lektorix
des Monats August 2007
Kirsten Boie:
Alhambra
Oetinger 2007
Was wäre wenn?
Vielen Jugendlichen ist der Begriff Alhambra wahrscheinlich eher durch das beliebte Brettspiel als durch den Palast in Granada bekannt. Boston, der jugendliche Protagonist des neuen Romans von Kirsten Boie, besucht jedoch die „echte“ Alhambra. Er bewegt sich mit seiner Schulklasse auf touristischen Pfaden, während parallel erzählt wird, was in derselben Stadt im Jahr 1492 passiert. Als er auf einem Markt nach einer alten Fliese greift, landet er plötzlich in jener Vergangenheit. Irrtümlich wird er für den zukünftigen Gemahl der Prinzessin Johanna gehalten und gerät in eine sehr gefährliche Situation. Und niemand kann ihm helfen, denn wer würde ihm schon glauben? Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass Kirsten Boie, in erster Linie für ihre realistischen Kinder- und Jugendbücher bekannt, nun auf die momentan so erfolgreiche Schiene der phantastischen Literatur aufspringt. Tatsächlich aber ist die Zeitreise das einzige phantastische Element. Gekonnt kombiniert die Autorin unterschiedliche Textsorten – „Alhambra“ ist zwar im Wesentlichen ein historischer Roman, hat aber auch Elemente von Verwechslungsgeschichte, Abenteuerroman und Entwicklungsroman. Dabei wird die heute mehr denn je akute Frage nach dem friedlichen Zusammenleben der drei großen Weltreligionen zur Diskussion gestellt. Was den Verlauf der Historie betrifft, spielt sie mit der reizvollen Frage des „was wäre wenn“: Boston bekommt durch Zufall mit, dass Königin Isabella die geplante Reise von Columbus nicht unterstützen will. Wenn aber Columbus Amerika nicht entdeckt, wird es Bostons amerikanischen Vater und damit auch ihn nie geben... Kirsten Boie hat sehr genau recherchiert und schildert die historischen Rahmenbedingungen detailreich, fokussiert aber auch auf die Innensicht ihres Protagonisten. Und bei aller Dramatik ist Platz für skurrile Verwicklungen: So wird der Held fast von der Inquisition verbrannt, weil sein Handy mit seinen rätselhaften Bildern und Tönen eindeutig Teufelszeug ist ...
Kathrin Wexberg
Lektorix
des Monats Juni 2007
Sarah Weeks:
Jamies Glück
Hanser 2007
Glück und Unglück
Manchmal lässt es sich schwer sagen, wann und womit genau die Unglückssträhne begonnen hat. An jenem Abend, als Jamie seinen Kater noch raus ließ, der dann überfahren wurde? Oder erst als bald darauf sein Vater die Familie verlassen hat? Oder war es der Unfall seiner Tante Sapphy, bei dem sie ihr Gedächtnis verloren hat, sich nur noch an die Zeit vor dem Unfall erinnern kann? Verblüffend, mit wie viel Leichtigkeit, Humor und Sinn für komische Situationen Sarah Weeks dieses angehäufte Unglück erzählend bewältigt: Denn das war erst der Anfang. Es folgt der Umzug in die Wohnwagensiedlung zu Tante Sapphy, um sie besser pflegen zu können. Vielleicht, um ihrem Erinnern mit dem richtigen „Schlüssel“ wieder auf die Sprünge zu verhelfen. Jamie denkt dabei an alte Platten, die an ein und derselben Kerbe immer wieder hängen bleiben. So wie bei ihm der Geschmack nach Toffee in unangenehmen Situationen immer wiederkehrt, und der bohrende Druck in seiner Wange – umgekehrt zu seiner Tante will Jamie diese Erinnerung an den Auslöser seiner Panik, die Geschichte mit dem alten Gray, unbedingt vergessen. Ungeschönt beschreibt Weeks das Leben in der Siedlung, die Armut, die manchmal klischeehaft skurrilen Typen, die gegen die Hoffnungslosigkeit kämpfen – oder längst aufgegeben haben. Unter ihnen auch das Mädchen Audrey, die tatkräftig ihr Leben zusammenhält und weiß, mit welchem Tritt gegen den Automaten man zu Gratislimo kommt. Und die mit ihrer viel zu großen, noch dazu glaslosen Brille selbst ein Stück Erinnerung herumschleppt. Seit sie sich hartnäckig an seine Fersen heftet, scheinen sich die Dinge für Jamie nach und nach zu ändern. Auch wenn ihr Hypnosetrick nicht funktioniert, lernt Jamie wieder zu vertrauen, letztlich auch sich anzuvertrauen. Der genaue Blick ist es, der, der hinter die Dinge schauen lässt und beim Schreiben so wirkt, als würde man einen Splitter aus der Haut entfernen – erklärt ihm der Autor, der die Schule besucht. Und dann kommt der Moment, um darüber nachzudenken, wann und womit es neuerlich begonnen hat – das Glück?
Inge Cevela
Lektorix
des Monats April 2007
Digne M. Marcovicz: Massel.
Letzte Zeugen
Hanser 2007
Zwölf Zeitzeugen
Es war nur ein wenig zu wenig Geld. Und doch wurde ihm das sichere Nachtquartier verwehrt. „Ich hatte großes Glück“, sagt Jósef Hen von dieser Nacht, in der die anderen Juden in die Hände der Nazis fielen. Diese und andere Spielarten vom etwas zweifelhaften Glück im Unglück, jiddisch „Massel“, erlaubt zwölf Zeitzeugen das Überleben inmitten der absoluten Vernichtung. Zwölf Menschen, zwischen 1915 und 1932 in Rumänien, Polen, Deutschland geboren, wurden um ihre Erinnerungen gebeten, Erinnerungen an die Zeit des Krieges und des Holocaust, an KZ, Ghetto, Flucht, an ihr Leben danach, ihr Überleben mit diesen Erinnerungen. Was Menschen – damals wie heute – in dieser konsequenten Ungeheuerlichkeit nicht vorstellbar ist, muss immer wieder klar vor Augen geführt werden.
Unter den vielen Beispielen geht das Buch von Digne M. Marcovicz völlig neue Wege in Idee, Konzeption und ästhetischer Umsetzung: In reich bebilderter Broschurbindung werden Fotos der Interviewten wie Filmaufnahmen auf den Seiten montiert, spiegeln den lebhaften Eindruck ganz unmittelbaren Erzählens. Das Erzählte wird mit historischen Aufnahmen und aktuellen Fotos aus den Gedenkstätten des Holocaust belegt; Zeitungsberichte, Plakate, Originalzitate belegen die Fakten hinter den erzählten Lebenserinnerungen. Die gelernte Fotoreporterin, Journalistin, Filmemacherin und Künstlerin aus Berlin nutzt all ihre Perfektionen für das Medium Buch, um bestimmten Aussagen besonderes Gewicht zu verleihen: Durch den Wechsel in Typographie und Schriftgröße, Farb- und Fettdruck oder gar das Einfügen von Sprechblasen und Satzbalken entsteht eine ungeheuer vielfältige, bunte und tief beeindruckende Zusammenschau. Die den Comics entlehnte Erzähldynamik wird dank des äußerst bedachtsamen Umganges nie peinlich oder vordergründig. Den von Internet und Videoclips geprägten Sehgewohnheiten junger Menschen gibt das offene Layout keine Hierarchie im Lesen vor und fördert einen ganz subjektiven Zu- und Tiefgang zu einem wichtigen Thema.
Inge Cevela
Lektorix
des Monats Februar 2007
Lorenz Pauli / Kathrin Schärer: mutig, mutig Atlantis Verlag 2006
Mutig!?
Wieder einmal entscheiden hundertstel und tausendstel Sekunden über Sieg und Niederlage und ein Millionenpublikum fiebert am Bildschirm für die nationalen Favoriten mit. Mutig stürzen sich die Helden in Eiskanäle, über Steilhänge und Sprungschanzen. Geben ihr Letztes. Überwinden tief sitzende Ängste. Sind mutig. Mutig?
Eine recht zufällig zusammen gewürfelte Viererbande aus Maus, Schnecke, Frosch und Spatz versucht der Langeweile zu entgehen und verfällt auf die Idee, man könnte doch den Mutigsten unter ihnen in einem Wettkampf ermitteln. Jedes der Tiere wählt seine eigene Disziplin und: Auf los geht’s los! Doch kaum ist die Maus – ohne aufzutauchen! – bis ans andere Ufer und zurück geschwommen, stellt sich auch schon die Frage, was denn nun eigentlich mutig sei! Der Frosch schwimmt und taucht schließlich ständig … Anderseits kann er mit seinem todesverachtenden Seerosen-Fressen bei der Schnecke nicht wirklich punkten. Die wiederum, um ihren Mut zu beweisen, ein allerhöchstes Risiko eingeht: Schnecke verlässt ihr Haus, um völlig schutzlos einmal drum herum zu kriechen! Was den Spatz kaum beeindruckt, hat er doch sein Leben damit begonnen, seine Eierschale zu verlassen. Aber wie toppt ein frecher Spatz all diese – subjektiv betrachtet – zweifellos rekordverdächtigen Mutproben? Deutlich ist den Freunden die Spannung ins Gesicht und in die Körperhaltung geschrieben, viel Einfühlungsvermögen zeigt Kathrin Schärer für ihre mutigen Helden und verleiht ihnen mit großzügig angelegten Perspektivewechseln und rasantem Bildschnitt enorme Ausdrucksstärke.
Unbestritten: Seinen Mut beweist, wer über den jeweils eigenen Schatten springt. Das verdient Applaus. Wer aber in einer rekordverliebten Welt den Gruppendruck des Immer-höher und Immer-mehr überwindet und wie der Spatz sich dem entzieht und erklärt: „… ich mach nicht mit!“ – der löst völlige Verblüffung aus. Und unter wirklichen Freunden auch Jubel: „Ja, das ist Mut!“
Inge Cevela