Lektorix in der Furche für das Jahr 2008
Lektorix
des Monats Dezember 2008
Edward van de Vendel:
Superguppy
Ill. v. Fleur van der Weel.
Aus dem Niederländ.
v. Rolf Erdorf.
Boje 2008
Von Fischen, Falten und Fenstern
"Wer noch weiß, was ein Gedicht ist, wird schwerlich eine gutbezahlte Stellung als Texter finden.", bemerkte einst Theodor W. Adorno in seiner "Theorie der Halbbildung". Dennoch: Gerade im Bereich der Kinderlyrik finden sich immer wieder bemerkenswerte neue Versuche, sich der Frage zu nähern, was denn nun ein Gedicht sei. Der Kölner Boje Verlag startet nun unter dem Titel "Gedichte für neugierige Kinder" eine neue Reihe mit moderner Lyrik für junge Leser*innen. Edward van de Vendel, ein niederländischer Autor, der im deutschsprachigen Raum mit einigen Jugendbüchern, vor allem aber mit seinen poetischen Bilderbuchtexten ("Anna Maria Sofia und der kleine Wim", "Großvater, Kleinvater") für Aufmerksamkeit gesorgt hat, gestaltete den ersten Band. Seine Gedichte nehmen ihren Ausgangspunkt bei scheinbar banalen Dingen des Alltags – unter lakonischen Titeln wie "Telefon", "Falten", "Zucker" oder "Morgen", die jeweils in giftgrüner Schreibschrift über den kurzen Texten stehen, stellt ein lyrisches Ich philosophische Betrachtungen unterschiedlichster Art an. "Ich träumte, dass ich träumte,/anschließend war ich wach./Doch mein Traum ging weiter –/wach war ich erst danach." Der Dämmerzustand zwischen Träumen und Wachen, die Schwierigkeiten der Kommunikation zwischen Mensch und Fisch, Omas Falten, die weiterschmunzeln, auch wenn sie selbst nicht mehr lacht – eine Fülle von Themen unmittelbar aus der kindlichen Lebenswelt kommt hier zur Sprache. Die Grundstimmung von van de Vendels Texten ist stets heiter, ohne platt zu werden, dennoch sind Tiefgang und Ernsthaftigkeit spürbar. Rolf Erdorf hat die Gedichte gekonnt und stilsicher ins Deutsche übertragen, er verwendet dabei so wunderbare Wortneuschöpfungen wie "wasserwortetaub" oder "menschenstimmenstill", die zu einem eigenen Weiterspinnen und lustvoller Auseinandersetzung mit Sprache einladen. So konkret und gleichzeitig offen wie die Texte sind auch die Illustrationen, in denen Fleur van der Weel das lyrische Ich als charmant-struppigen kleinen Hund in Szene setzt. Die Bilder sind ausschließlich in Schwarz, Weiß und Giftgrün gehalten. Humorvoll nehmen sie Elemente der Texte auf und erzählen doch auch eigenständige Geschichten. Auch wenn damit im Sinne Adornos eine Karriere als Texter/in möglicherweise nicht mehr in Frage kommt – ausgesprochen empfehlenswerte Lektüre für Kinder im Volksschulalter!
Kathrin Wexberg
Lektorix
des Monats Oktober 2008
Heinz Janisch: Der König und das Meer.
21 Kürzestgeschichten.
Ill. v. Wolf Erlbruch.
Sanssouci 2008
Deine Krone wird rosten
Die Geschichte des Bleistifts wurde bereits geschrieben. Dementsprechend kann dieser Bleistift sich mit einem schlichten „Schon geschehen“ aus der literarischen Affäre ziehen. Und das, obwohl der König sich redlich bemüht hat: „Sag etwas! Irgendwas! HUCH oder HEPP oder KARAWANKEN!“ Der Bleistift jedoch „legte sich schlafen“. Doch nicht nur der Bleistift, auch die Trompete, die Biene, der Schatten, die Wolken und der Geist zeigen sich dem König gegenüber ein wenig widerständig.
„Ich bin der König“, versucht der König gleich zu Beginn klarzustellen. Doch seine in sprachlich verhaltenen Miniaturen festgehaltenen Begegnungen zeigen, dass auch derjenige, der die Krone trägt, sich schlichten Wahrheiten stellen muss. „Deine Krone wird rosten. Und du auch“, antwortet ihm zum Beispiel der Regen – weitgehend unbeeindruckt von der Aufforderung des Königs aufzuhören. Schlichte Wahrheiten zu begreifen eröffnet jedoch die Möglichkeit, neue Wege zu gehen und Unbekanntes zu erproben. Und so wird der aus naturfarbenen Papieren collagierte und mit wenigen markanten Ölkreidestrichen charakterisierte König auf den Kopf gestellt, von Müdigkeit beseelt und vom Glitzern einer Schneedecke in Staunen versetzt.
Mit Heinz Janisch und Wolf Erlbruch arbeiten zwei Künstler erstmals zusammen, die ihre Texte und Bilder aus der Kraft der Reduktion heraus entwickeln. Die Begegnungen werden in ihrer Schlichtheit mit jedem Umblättern neu variiert und ermöglichen es, sich an der Seite des Königs durch den Bilderbuchraum zu bewegen und die so simpel erscheinenden und doch so essentiellen Erfahrungen mitzuerleben und nachzuempfinden.
Der Weißraum der Bilder, in dem Wolf Erlbruch sparsam seine Figuren platziert, schafft dafür den gedanklichen Freiraum; der stilistische Kontrast wiederum, mit dem Erlbruch eine Baumkrone, eine Blume, einen aus seiner Papiervorlage ausbrechenden Vogel ins Bild setzt, weist zurück auf die Überraschungsmomente, die Heinz Janisch seinem König zuteil werden lässt. Das Gesicht in den Regen zu halten, die Wolken ziehen zu lassen, den leuchtenden Stern zurückzuholen, dem Rauschen des Windes in den Blättern zuzuhören: Dies alles scheint ganz und gar aus den üblichen Mustern im Handeln des Königs herauszufallen und darf beim Lesen entdeckt und aufgesammelt werden. „Schon gut! Ich habe verstanden“, stellt der König am Ende fest und springt mit lautem Lachen ins Blau des Meeres. Seine Krone jedoch bleibt am Strand liegen.
Heidi Lexe
Lektorix
des Monats Juni 2008
Avram Kantor:
Die erste Stimme
Ich und mein Bruder - mein Bruder und ich.
Aus dem Hebr. von Mirjam Pressler.
Hanser 2008
Stummes Erzählen
Während der Titel „Die erste Stimme“ Assoziationen an Themen rund um Musik und Gesang weckt, ist es vielmehr das Schweigen, dass das das zentrale Kompositionselement dieses Jugendromans ist. Es ist kein Ich-Erzähler, sondern eigentlich ein Ich-Schreiber, der diese Geschichte erzählt – denn der Bub, dessen Namen die Leser*innen nicht erfahren, kann nicht sprechen. Seine Familie hält ihn für zurückgeblieben, möglicherweise autistisch, auf jeden Fall aber intellektuell sehr eingeschränkt. In Wirklichkeit aber bekommt er sehr viel mehr von seiner Umwelt mit, als diese vermutet, und ist in der Lage, sich eigenständig Informationen und Wissen zu besorgen. So weiß niemand, dass er schreiben und lesen kann. Als ihm sein großer Bruder Kobi erlaubt, auf seinem Computer zu spielen, ahnt er nicht, dass der scheinbar zurückgebliebene kleine Bruder seine Mails lesen kann und bald auch herausbekommt, auf welchen Internet-Seiten sich Kobi bewegt. Als Kobi plötzlich beginnt, sich sehr intensiv mit der jüdischen Religion zu beschäftigen und für seine Familie immer unzugänglicher wird, ist der Ich-Erzähler der einzige, der weiß, dass Kobi sich mit einer ultraorthodoxen Sekte eingelassen hat: Was ihn wiederum vor die schwierige Entscheidung stellt, wie er mit diesem Geheimnis umgehen soll, ohne wiederum sein eigenes Geheimnis zu verraten. Avram Kantor ist als Verleger, Übersetzer und Autor für Kinder und Erwachsene tätig, obwohl er in Konstanz Deutsch studiert hat, ist dies sein erstes auf Deutsch übersetztes Buch – für die Übersetzung verantwortlich ist Mirjam Pressler, selbst Autorin und ausgewiesene Kennerin der israelischen Literatur. Neben der faszinierenden Konstruktion des stummen Erzählers ist es auch der Handlungsort Israel und die Bedeutung der jüdischen Religion für die Israelis, die dieses Jugendbuch so ungewöhnlich und lesenswert machen.
Kathrin Wexberg
Lektorix
des Monats April 2008
Andrea Wayne von Königslöw: Geschichten vom Klöchen
Ill. v. Stefan Slupetzky
Parabel in der Verlagsgruppe Beltz 2008 (Neuauflage)
Am stillen Örtchen
„Sauber werden“: Ein unsägliches Wort für einen Entwicklungsprozess, der Eltern oft ziemlichen Stress macht und für den es dementsprechend eine Fülle an pädagogisch einsetzbaren, trivialen Bilderbüchern mit Belehrungscharakter gibt. Erfrischend anders ist der Zugang in diesem Bilderbuch. Hier geht es zunächst nicht darum, Argumente zu sammeln, die Kinder zum Klogang motivieren, es werden vielmehr die Gründe dargestellt, warum Tiere nicht aufs Klo gehen können – und diese Gründe sind ebenso haarsträubend wie witzig. Eine Giraffe etwa würde niemals durch die Tür passen, während ein Huhn denken würde, das Klo sei ein Nest. Das Stachelschwein wiederum würde mit seinen Stacheln stecken bleiben, der Löwe das Klo für seinen Thron halten und darauf sitzen bleiben. Daraus folgt auf der letzten Seite die verblüffend einfache Schlussfolgerung: „Das Klo ist eben nur für große Kinder gedacht, große Kinder wie dich.“ Die Kacheln, die den Buchumschlag zieren, sind ein wesentliches Gestaltungselement der Illustrationen, sie wechseln auf jeder Seite ihre Farbe. So klar wie der Text ist auch die Bildkomposition: Auf der rechten Seite wird jeweils gezeigt, was mit dem Tier am Klo passieren würde, auf der linken Seite sind auf weißem Untergrund der Text und witzige Bilddetails wie der rote Teppich des Löwen gesetzt. Das Buch erschien 1994 erstmals auf Deutsch und war lange vergriffen – in einem Prüfungsgespräch des Fernkurses für Kinder- und Jugendliteratur der STUBE kam die Sprache auf eine mögliche Neuauflage, die von einer im Verlag Beltz & Gelberg tätigen Fernkurs-Absolventin prompt verwirklicht wurde. Somit ist ein lange vermisster Titel wieder zugänglich: Die Illustrationen stammen übrigens vom österreichischen Künstler Stefan Slupetzky, der sich mittlerweile weg von der Kinderliteratur ins Reich der Krimis bewegt hat, in dem er sich mit seinen „Lemming“-Romanen sehr erfolgreich bewegt.
Kathrin Wexberg
Lektorix
des Monats Februar 2008
Peter Sís:
Die Mauer.
Wie es war, hinter dem Eisernen Vorhang aufzuwachsen
Aus dem Engl. von
Michael Krüger
Hanser 2007
Hinter dem Vorhang
Von heiterer Verklärung wie in „Goodbye Lenin“ bis hin zu eindringlichen Auseinandersetzungen wie „Das Leben der anderen“ reicht die Bandbreite der populärkulturellen Darstellungen des Lebens hinter „der Mauer“ beziehungsweise dem so genannten „Eisernen Vorhang“ – noch gar nicht so lange her und doch für heutige junge Menschen schon Geschichte. Peter Sís, Filmemacher, Autor und Zeichner, wurde in 1949 in der Tschechoslowakei geboren, seit 1984 lebt er mit seiner Familie in den Vereinigten Staaten. Im Nachwort schildert er, wie schwer es ihm fällt, zu erklären, unter welchen Umständen er aufgewachsen ist – da seine ureigenste Ausdrucksform das Zeichnen ist, sei in diesem Buch jede Ähnlichkeit mit ihm beabsichtigt. „Die Mauer“ ist rein formal betrachtet ein Bilderbuch, richtet sich aber nicht an Kleinkinder, sondern geschichtsinteressierte ältere Kinder und Jugendliche. Sowohl Erzählform als auch Seitengestaltung sind ungewöhnlich und durchaus herausfordernd: Während der Haupttext relativ distanziert in der dritten Person erzählt wird, gibt es zwei Doppelseiten mit Tagebucheintragungen in der Ich-Form, die wiederum umrahmt sind von collagierten Familienfotos, Kinderzeichnungen, Plakaten und anderen Dokumenten. Auf den meisten Seiten hingegen ist in der Mitte ein großflächiges Bild, das mit einem darunter gesetzten kurzen Satz kommentiert wird, rund um das Bild finden sich genauere, erläuternde Informationen. In den comicartigen Schwarz-Weiß- Zeichnungen wirkt das hineingesetzte Rot der kommunistischen Symbole umso dominanter. Und immer wieder blitzen in den Darstellungen des Alltags unter Zensur und Repression zarte bunte Farbtöne auf, die für die Hoffnung der Menschen auf ein anderes Leben stehen, für die erträumten Freiräume und realen Möglichkeiten, sich der Indoktrination ein Stück weit zu entziehen. Ein in Gestaltung und Sujet ungewöhnliches Buch, das zu einer differenzierten Auseinandersetzung mit der Zeit des „Kalten Krieges“ einlädt.
Kathrin Wexberg