Lektorix des Monats für das Jahr 2012
Lektorix des Monats Dezember 2012
Von Meerjungfrauen, Kapitänen & fliegenden Fischen. Geschichten und Gedichte rund ums Wasser.
Hg. v. Renate Raecke.
Ill. v. Stefanie Harjes.
Boje 2012.
205 S. € 20,60.
Textreisen ins Wasser
"Eine Anthologie soll im besten Fall eine "Verführung" zum Lesen (…) sein" und in der hier vorliegenden "finden sich Texte, die alle Stimmungen, Farben und Gerüche des Wassers wiedergeben", so heißt es im Vorwort. Und das verführt – nicht nur zum (Weiter)Lesen, sondern auch zum Selber-Ausprobieren, zum Lachen, Nachdenken und Sich-Treiben-Lassen. Um dieser Vielfalt an Emotionen und Assoziationen gerecht zu werden, sind verschiedenste Genres und Autor*innen zusammen gestellt und laden zu einer Reise über Meere, Seen und Flüsse quer durch die Literatur. Bereits die anregenden Kapitelüberschriften versprechen Abwechslung und Unterhaltung: "Eine kleine Sehnsucht und ein großes Verlangen", "Leichte Brisen, schwere Stürme und eine Prise Mut", "Das Meer sprang aus der Badewanne". Und so tummeln sich moderne Autoren neben Klassikern und Poeten neben Belletristen. Dabei werden u.a. kleine Kurzgeschichten zum Besten gegeben, Gedichte präsentiert, Balladen entrollt, Romane zurechtgestutzt, sowie Sagen und Märchen erzählt. Für jeden Geschmack ist etwas dabei: Meerjungfrauen mit meergrünem Haar, das funkelt "wie geschmolzene Butter auf Spinat"; halb hingezogene, halb hingesunkene Fischer; liebestolle Walrosse, die sich mit ihren Stoßzähnen beim Küssen in Acht nehmen müssen; tollkühne Kapitäne, die Schiffe durch Stürme manövrieren; diverse Fischarten: "Da merkte selbst der Kabeljau: / Na, jetzt ist die Forelle blau!"; onomatopoetische Regenlieder; sogar ungewöhnliche Rezepte. Die Vielfältigkeit der Literatur beweist sich hier in bunter Kurzweil: "mal spannend und dramatisch, mal fröhlich und skurril, mal tragisch, mal komisch, mal sinnig und mal unsinnig". Unterstrichen wird diese Mannigfaltigkeit von den heterogenen Illustrationen Stefanie Harjes. Während die Kapitelüberschriften jeweils malerisch auf einer Doppelseite in Szene gesetzt werden, stehen den einzelnen literarischen Ergüssen divergierende Illustrationen zur Seite: Manchmal reicht schon die Skizze eines Einrad fahrenden, skeptischen Seepferdchens aus, um dem drohenden Sturm im Gedicht etwas von seinem Angstpotential zu nehmen. Anderswo verschwinden Bilder und Fließtext unter einem großflächigen Blau und sind infolgedessen tatsächlich "unter Wasser". Die differenten Techniken reichen von Collagen über Aquarell bis zum Kartoffeldruck und unterstreichen so die unterschiedlichen Spektren des Wassers. Bis wirklich jedes sprachliche und inhaltliche Detail dieser Anthologie erkundet ist, fließt noch viel Wasser den Bach hinunter…
Elisabeth von Leon
Buchtipp in DIE FURCHE 49/6. Dezember 2012
Avram Kantor: Schalom.
Aus dem Hebr. v. Mirjam Pressler.
Hanser 2012.
240 S., 16,40.
Nicht vergangene Vergangenheit
"Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen." William Faulkners vielzitierter Satz trifft auch auf Nechama Silber zu, eine alte Frau, die den Holocaust überlebt hat und sich mit ihrem mittlerweile verstorbenen Mann in Israel ein neues Leben aufgebaut hat. Dazu gehört auch, dass die Ehe des Sohnes mit einer Deutschen für sie nicht akzeptabel ist, beharrlich hat sie sich geweigert, Sohn, Schwiegertochter und die beiden Enkel, die in Deutschland aufwachsen, jemals zu treffen. Auch als der mittlerweile achtzehnjährige Enkel Gil nach Israel kommt, um dort in einem Altersheim Zivildienst zu leisten, verbittet sie sich jeden Besuch. Doch als dann plötzlich ein junger Mann mit einem seltsam vertrauten Lächeln vor der Tür steht, der noch dazu mit der Stimme ihres geliebten Mannes Menachem spricht, ist plötzlich alles anders... Avram Kantor erzählt die Geschichte der Familie Silber aus verschiedenen Perspektiven und macht so deutlich, wie sehr Ereignisse aus der Vergangenheit, über die nie gesprochen wurde, das Leben aller auch noch in der dritten Generation prägen. Stimmig wirkt, dass auch die Begegnung zwischen Nechama und Gil nicht dazu führt, Familiengeheimnisse aufzudecken oder erlittenen Schmerz "aufzuarbeiten" - sehr wohl aber eine Dynamik sowohl innerhalb des Familiengefüges als auch bei den einzelnen Personen möglich macht, die vorher undenkbar war. Auch wenn der Roman durchaus Längen hat und das Ende, in dem für die sterbende Nechama Enkel und Mann immer mehr verschmelzen, etwas dick aufgetragen scheint, zeigt der aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler übersetzte Text eindrucksvoll, wie die nicht vergangene Vergangenheit in die Gegenwart hineinwirkt.
Kathrin Wexberg
Lektorix des Monats Oktober 2012
Ich wünschte.
Porträts von Ingrid Godon
mit Texten von Toon Tellegen.
mixtvision 2012.
96 S. € 30,80
Auf Augenhöhe
Das Porträt darf als Kunstform verstanden werden, die nicht nur Abbildcharakter im Sinne einer physiognomisch genauen Darstellung des oder der Porträtierten hat, sondern darüber hinaus dessen oder deren Persönlichkeit einfängt. Seine Wirkung entsteht zuallererst über die Augenhöhe, die die Betrachter*innen der dargestellten Person gegenüber einnimmt. Darin liegt ein Rezeptionsvorsprung für jene, die in diesem Porträtband blättern: Unabhängig von ihrer Körpergröße können sie Blickkontakt auf Augenhöhe aufnehmen. Dennoch entstehen Irritationen, denn nicht alle Porträtierten blicken ihre Betrachter*innen an; oftmals verliert sich der Blick oder schweift in die Ferne; die Person gegenüber blickt durch einen hindurch oder hält die Augen gleich ganz geschlossen. Gesteigert wird dieses Moment der Irritation jedoch durch die Strenge in all diesen Blicken – niemand lächelt oder lacht, die Münder bleiben verschlossen. Nicht nur die jeweilige Persönlichkeit steht hier also zur ikonografischen Diskussion, sondern das Geheimnis, das hinter den Personen liegt – textlich realisiert durch formulierte Wünsche oder Sehnsüchte. Thematisiert werden dabei die Entfremdung von der Welt und sich selbst bis hin zu utopierten Auflösungsprozessen: „Ich wünschte, ich wäre allein. / Nein, das wäre zu viel. / Ich wünschte, dass ich überhaupt niemand wäre.“ Verloren Sein und Einsamkeit finden dabei ebenso künstlerischen Ausdruck wie die Präsenz der menschlichen Endlichkeit und das daraus erwachsende Begehren, verankert zu sein: "Ich wünschte, ich wäre Musik. […] Ich wünschte, dass mich ein jeder irgendwo / und unerwartet hören könnte, stehen bleibe / und lauschte, bis ich verklungen wäre. […] / Doch endgültig verklungen wäre ich nie. / Niemals."
Die als Bilderbuchkünstlerin bekannte Illustratorin Ingrid Godon hat ihre Porträts für eine Ausstellung großflächig auf matten, naturfarbenen Tonpapieren gestaltet. In Gesichtern mit weit auseinanderstehenden Augen setzt sie ihre Akzente über Bleistiftschattierungen, die wie Schleier über den Gesichtern liegen und Persönlichkeitsstrukturen gleichermaßen freigeben wie verschleiern. Der Kinderbuchautor Teen Tellengen hat poetisch auf die Emotion des Wünschens reduzierte Texte dazu gestaltet. Mit der bibliophilen, mit transparenten Zwischenseiten gestalteten Buchausgabe ist daraus kein Kinderbuch im engeren Sinn, wohl aber ein Band entstanden, der es allen Altersstufen ermöglicht, sich auf Augenhöhe auf menschliche Grundsehnsüchte einzulassen.
Heidi Lexe
Buchtipp in DIE FURCHE 40/4. Oktober 2012
Rachel van Kooij:
Menschenfresser George.
Jungbrunnen 2012.
352 S., € 22,60.
Ein Leben erfinden
Die Figur des Hochstaplers hat in der Literatur, erinnert sei nur an Thomas Mann unvollendet gebliebenen Felix Krull, meist etwas Humoristisch-leichtes – hochgestapelt wird aus gewitztem Kalkül, um sich Vorteile zu verschaffen. Rachel van Kooij akzentuiert den Ich-Erzähler in ihrem Jugendroman deutlich anders: Bereits als Kleinkind muss er seine Identität ändern, als sein Vater, Chef einer mittellosen Truppe von Wanderschaustellern, ihn mit seinem Bruder verwechselt. Als ihm aus diesem Versehen heraus die Rolle des gelehrten Dottore zugeteilt wird, entdeckt er sein Talent zum Auswendig-lernen – das er in weiterer Folge noch variantenreich einzusetzen weiß. Denn nachdem er sich als junger Mann in den politischen Wirren des ausgehenden 17. Jahrhunderts zunächst mit Mönchskutte gekleidet als irischer Pilger, dann als japanischer Prinz ausgibt, erfindet er sich schließlich jene Rolle, die ihm zu großer Berühmtheit verhilft, und die er mit viel Liebe zum Detail immer wieder neu ausschmückt: ein Ureinwohner Formosas, der von Jesuiten nach Frankreich verschleppt wurde. Als retrospektive Lebensbeichte erzählt kommen zahlreiche Aspekte des Lebens in lang vergangener Zeit zur Sprache, von willkürlichen Zwangsrekrutierungen junger Männer als Soldaten bis hin zur Schwierigkeit, jemanden der Lüge zu überführen, der seine Position so selbstsicher und phantasievoll behauptet. Schade nur, dass im ansonsten sehr gelungenen Buch weder der durchaus verwirrende historische Kontext noch das reale Vorbild für die Hauptfigur, ein Mann, der als George Psalmanazar in die Geschichte einging, näher erklärt wird; das bleibt eigenen Recherchen der jugendlichen Leser*innen überlassen.
Kathrin Wexberg
Lektorix des Monats Juni 2012
Shaun Tan: Der rote Baum.
Aus dem Engl. v. Eike Schönfeldt.
Carlsen 2012.
32 S. € 17,40.
Wie du es dir vorgestellt hast
Bereits im Vorsatzpapier fällt ein vereinzeltes dunkles Blatt und noch bevor die Geschichte beginnt, tröpfeln Buchstaben wie ein Hilferuf aus einem Megafon. Doch die Buchstaben verlaufen sich, lassen Schlieren zurück, die sich durch die Bildränder der folgenden großformatigen Illustrationen ziehen. Shaun Tan, zuletzt für seinen animierten Kurzfilm "The Lost Thing" sogar mit dem Oscar ausgezeichnet, gelingt es einmal mehr mit solchen Details zu verführen und ihnen Illustrationen folgen zu lassen, deren Wunderwelten dem Schlaraffenland eine Absage erteilen. Er wählt Formsetzungen industrialisierter Sujets und kombiniert sie mit in sich verschlungenen Fantasiefiguren. Zeit und Raum sind dabei ein wesentliches Stilelement für ihn: Seine großformatigen Bilder scheinen jeden Rahmen zu sprengen und werden kombiniert mit Panels, die minutiös Zeitablaufe in all ihrer Verlangsamung einfangen. Wie hier das Bild des Mädchens, das wartet und dabei die Momente zählt. Sie zeichnet Striche auf einen unbestimmten Untergrund, doch als die Panels nach und nach wegzoomen zeigt sich ein Schneckenhaus – und damit der Inbegriff der nicht und nicht vergehenden Zeit.
Es ist dieses Mädchen, um das sich die Geschichte dreht und der australische Autor und Illustrator nutzt diesmal seine Formsetzung, um von Traurigkeit und Depression zu erzählen. Das fallende Blatt nämlich dringt ein in das Zimmer eines kleinen Mädchens, in dessen Leben ein Tag "ohne Aussicht auf etwas Schönes" beginnt. Plötzlich überflutet ein ganzes Blättermeer das Zimmer und das Mädchen flüchtet, um sich mit jeder neuen Doppelseite zu bestätigen, das solche Tage "nur noch schlimmer" werden können. Sie flieht hinaus in eine Welt, in der die Öde anwächst, in der das Dickicht der Städte nicht mehr überwindbar scheint, in der die Traumbilder ebenso wie die Wellen hoch schlagen, in der künstlerische Trugbilder nicht mehr funktionieren. Shaun Tan fängt in seinen ausgeklügelten, überbordenden, gemalten und aus unterschiedlichem Material collagierten und dennoch auf einen zentralen Bildeffekt hin gestalteten Illustrationen die Emotion des Mädchens in zivilisationskritischen, ja sogar apokalyptisch gesteigerten Bildern ein. Und dennoch vermag er die Bedrohung mit einfachen Mitteln aufzubrechen: Am Ende des Tages kehrt das Mädchen in jenes kleine Zimmer zurück. Das Blättermeer ist verschwunden und aus einem kleinen roten Blatt wächst der titelgebende rote Baum als Bild der Hoffnung und des Glücks: "genauso wie du es dir vorgestellt hast".
Heidi Lexe
Buchtipp in DIE FURCHE 23/6. Juni 2012
Brian Selznick: Wunderlicht.
Aus dem Amerikan. von Uwe-Michael Gutzschhahn.
cbj 2012.
637 S., € 20,60.
Liebeserklärung an das Staunen
Eine Liebeserklärung an die Magie des Kinos, so bezeichneten Kritiker den mehrfach Oscar-prämierten Film "Hugo Cabret" von Martin Scorsese. Der Autor der Romanvorlage legt nun einen zweiten formal ähnlich gestalteten Roman vor, der auch als Liebeserklärung lesbar ist: an Astronomie, Wunderkammern und Kleinod. Das Buch füllen viele solcher Leitmotive, die sich alle um das Staunen drehen und zwei parallel laufende Geschichten verbinden. 1977 sucht der junge Ben nach seinem Vater; 1927 sucht das Mädchen Rose nach ihrer Mutter. Das Besondere dieser insgesamt großen Biografie einer Familie ist die Erzähltechnik.
Stimmige Textpassagen berichten von der Suche Bens, Roses Reise hingegen wird ausschließlich über monochrom schraffierte Illustrationen erzählt, die sich zu sequenziellen Bildfolgen fügen. Dadurch, dass diese ganzseitig sind ersteht der Eindruck eines bildgewaltigen Daumenkinos oder Stummfilms. Diese Art Zeichensprache war bereits in "Hugo Cabret" gelungen und innovativ – in "Wunderlicht" unterstützt sie darüber hinaus auch die Bindung an die Figuren. Denn sowohl Rose als auch Ben sind gehörlos und angewiesen auf visuelle Impulse – eine Weltwahrnehmung, der man sich durch die Rezeption der Bilder nähern kann. Die Übergänge zwischen beiden Handlungslinien sind klug konstruiert, sie setzten sich ineinander fort und finden zahlreiche Berührungspunkte. Dabei sind es weniger Schlüsselereignisse, die Ben und Rose verbinden, sondern vielmehr Schlüsselorte. Dreh- und Angelpunkt ist das American Museum of Natural History in New York, das beide besuchen und zwischen ausgestellten Dioramen und Meteoriten Freundschaft, Familie und (in Bens Zeit) sogar einander finden …
Christina Ulm
Lektorix des Monats April 2012
Hubert Gaisbauer/Renate Habinger:
Schlaf jetzt kleines Kamel.
Wiener Dom-Verlag 2012.
Erdenrund und Weltganzes
In "Die Geschichte vom weinenden Kamel" erzählte ein Dokumentarfilm in schlichten Bildern die ergreifende Geschichte eines Kamelbabys, das von seiner Mutter verstoßen wird – bis schließlich ein spezielles Ritual das Herz der Kamelmutter erweicht und sie ihr Kind annimmt. Dem märchenhaften Ton dieser eines eine wahre Begebenheit inszenierenden Films entspricht auch die Stimmung in Hubert Gaisbauers erstem Bilderbuchtext – doch hier wird niemand verstoßen, ganz im Gegenteil, das titelgebende kleine Kamel hat im großen Kamel eine überaus geduldige Ansprechperson. Und Geduld ist hier wirklich gefragt: Denn, ein üblicher Topos im Bilderbuch, das kleine Kamel kann und will einfach nicht schlafen.
Aus diesem Grundkonflikt entspinnt sich ein facettenreicher Dialog zwischen den beiden, in dem die Welt philosophisch in ihrer ganzen Vielfalt ausgelotet wird. "Was ist die Welt? Was ist eine Stadt? Warum gehen wir zur Stadt? Wo ist es am schönsten auf der Welt?" Die unaufhörlichen Fragen des kleinen Kamels werden auch in der Typographie fast aufdringlich groß gesetzt. Die beiden Ebenen des Erzähltextes, die Wirklichkeitsebene der beiden Kamele und die Vorstellungswelt, die aus dem Gespräch und der überbordenden Phantasie des kleinen Kamels entsteht, werden auch in der Farbgestaltung durch den Kontrast zwischen Blau und Schwarz klug voneinander abgehoben. Renate Habinger taucht die Doppelseiten in ein tiefes, unregelmäßig getöntes Dunkelblau, das sie mit überarbeiteten Monotypien bespielt: Auf gedrucktem Untergrund werden einzelne Elemente collagiert und mit Buntstift eine Welt gezeichnet, die sich bewusst einem vordergründig-orientalischen Setting entzieht. Zu entdecken gibt es vielmehr ein In- und Miteinander verschiedener Zivilisationen: Da findet sich Eselskarren neben Handy und Moschee neben christlicher Kirche.
Der genau durchkomponierte Rhythmus der Bilder setzt auf surreale, immer wieder an Chagall erinnernde Vielfalt ebenso wie wiederkehrende Elemente: Denn so dunkel die Bilder auch sind, stets wird durch das Funkeln der Sterne in winzigen hellen Akzenten das Blau erleuchtet. Das Ende der Nacht allerdings wird in dieser erfrischend anderen Variante der Gattung Einschlafgeschichte nicht erreicht: Auch die Geduld des großen Kamels hat irgendwann ein Ende und schließlich schlafen beide. Die letzte Buchseite verführt mit ihren über den Nachthimmel fliegenden Tieren nicht zum Schlafen, sondern zum weiter in hinreißend schönen Bildwelten versinken – und/oder das Buch noch einmal von Vorne zu beginnen.
Kathrin Wexberg
Buchtipp in DIE FURCHE 14/5. April 2012
Heinz Janisch:
Herr Jaromir und der Meisterdieb
Ill. v. Ute Krause.
Bloomsbury 2012.
Ermittlung in Wien
Sherlock Holmes, James Bond und Hercule Poirot bekommen Konkurrenz: Der österreichische Autor Heinz Janisch hat mit dem ehrwürdigen Lord Huber eine Detektivfigur geschaffen, die das Beste der (britischen) Kriminalgeschichte vereint. Beobachtungstalent, flinke graue Zellen und entsprechendes Equipment (so ist sein Gehstock gleichzeitig auch Telefon und Fotoapparat) helfen ihm bei der Auflösung seines nun schon zweiten Falls. Doch ganz gemäß der großen Vorbilder wäre auch Lord Huber nichts ohne seinen "Watson". Dass dieser – Herr Jaromir – nicht nur sehr klug, eloquent und fremdsprachenbegabt ist, sondern obendrein ein Dackel, trägt sehr zum Amüsement durch den charmanten Text bei. Angesiedelt ist dieser in Wien, wo ein Kunstdieb das Detektivduo herausfordert. Heinz Janisch belässt es dabei nicht bei der bloßen Ortsangabe, sondern bereichert die spannende Geschichte mit viel Zeit- und Lokalkolorit: Aus dem Kunsthistorischen Museum ist Pieter Bruegels berühmtes Bild "Kinderspiele" gestohlen worden – eine Tat, die an ähnliche in London und Paris erinnert, bei denen die entwendeten Gemälde jedoch merkwürdigerweise wieder zurückgebracht wurden. "What’s going on?", fragt Herr Jaromir dementsprechend. Zwischen Stadtspaziergängen und Kaffeehausbesuchen beginnen die beiden zu ermitteln – nicht nur im Museum, sondern passend zu den artistischen Kinderspielen in Bruegels Gemälde auch im Zirkus … Ohne Scheu vor der Komplexität dieses Genres adaptiert Heinz Janisch typische Motive wie "whodunit" und "red herring" bravourös für die jüngsten Krimieinsteiger und verrät dabei ganz nebenbei auch, woher der Naschmarkt seinen Namen hat und wie eine Schokoladentorte zum Beweisstück wird.
Christina Ulm
Lektorix des Monats Februar 2012
Iwona Chmielewska:
Blumkas Tagebuch.
Gimpel 2011.
Würde für jedes Kind
Am 5. August ist es 70 Jahre her, dass Janusz Korczack gemeinsam mit Zöglingen des von ihm geführten Waisenhauses aus dem Warschauer Ghetto ins Konzentrationslager Treblinka deportiert wurde. Die Tatsache, dass der polnische Arzt sich selbst durchaus hätte retten können, hat ihn zu einer Ikone gewaltlosen Widerstandes gemacht. Eine Stärke von Iwona Chmielewskas großformatigem Buch jedoch ist es, über Janusz Korczak eben nicht von diesem heroischen Ende her zu erzählen.
Bereits von 1912 an leitete Janusz Korczak das Waisenhaus Dom Sierot in Warschau, in dem die hier erzählte Geschichte des Mädchens Blumka verortet wird. Aufgeblättert wird – Seite um Seite – ihr Tagebuch, wobei die Doppelseiten des Buches selbst nicht den Tagebuchseiten entsprechen, sondern die Illustrationen und kurzen Textpassagen wie aus diesem Tagebuch herausgefallen erscheinen. Ausgehend von einer Fotografie stellt Blumka sich selbst, elf andere Kinder und letztlich "unser[en] Herrn Doktor" vor und kombiniert Details der kindlichen Biografien dabei mit kleinen alltäglichen Begebenheiten. Die haptische Qualität des Tagebuchs wird im materiellen Charakter der Illustrationen gespiegelt: Fein schraffierte Figuren werden in den leeren Raum meist faserigen Tonpapiers gesetzt; aus den linierten Blättern des Tagebuchs hingegen entstehen kleine Papierinstallationen, die Motive des Geschilderten aufgreifen und weiterführen.
Entsprechend bruchstückhaft erscheinen Blumkas Erinnerungen und entsprechen damit auch dem pädagogischen Konzept von Janusz Korczak. Ihm war an keinem geschlossenen Theoriegebilde gelegen, sondern daran, ethische Haltungen zu überprüfen, wenn er in seinen pädagogischen Veröffentlichungen ebenso wie in seinem praktischen Handeln das Recht des Kindes auf Achtung betont hat: "Es ist der Herr Doktor, der sagt, dass jedes Kind das Recht hat, seine Träume und Geheimnisse für sich zu behalten." Daher besitzt im Waisenhaus "jedes Kind seine eigene Schublade, in die niemand schauen darf." Es macht die Besonderheit des Buches aus, dass diese beiden zusammengehörigen Informationen nicht nebeneinander gestellt, sondern in Text und Bild immer wieder Details aufgegriffen und neu platziert werden. In dieser Form des nicht-linearen Erzählens bleibt jedes Kind mit seiner Würde präsent – ganz dem antihierarchischen Erziehungskonzept Korczaks entsprechend, in dessen Waisenhaus es zum Beispiel ein Kindergericht gegeben hat. In der künstlerisch seelenvollen Gestaltung des Buches wird die historische Dimension dieser pädagogischen Konzeptes umso deutlicher, als die Fiktionalität von Blumkas Erzählen nie in Frage gestellt wird.
Heidi Lexe
Buchtipp in DIE FURCHE 5/2. Februar 2012
Ursula Poznanski: Saeculum.
Loewe 2011.
Spiel oder Ernst?
Die Technikaffinität der so genannten Digital Natives wird immer wieder öffentlich diskutiert. Dennoch gibt es nicht wenige Jugendliche, die das Gegenteil lockt: der anachronistische Reiz von Mittelalter-Festivals oder möglichst originalgetreuen Rollenspielen.
War es in ihrem ersten, von der Jugendjury des Deutschen Jugendliteraturpreises ausgezeichneten Roman "Erebos" die Welt der Computerspiele, denen sich Ursula Poznanski gewidmet hat, ist es nun ein ausgerechnet im österreichischen Wieselburg angesiedeltes Mittelalter-Rollenspiel. Protagonist Bastian, ein ehrgeiziger Medizinstudent, ist nur durch den Charme eines Mädchens zur eingeschweißten Gruppe dazu gestoßen und nicht ganz sicher, was er von dem ganzen Szenario halten soll - zumal eingangs radikal alles abgesammelt wird, was im 14. Jahrhundert (daher auch der Titel von Spiel und Buch, Saeculum) noch nicht erfunden war. Dies gilt nicht nur für Luxusdinge wie Handy und Schokolade, sondern auch Bastians Brille - ein Detail, das im weiteren Verlauf der Handlung noch folgenschwer sein wird. Denn schnell kippt die Stimmung, als immer mehr Mitglieder der Gruppe spurlos verschwinden. Mit Bastians ständigen Rationalisierungsversuchen bleibt bis zum Ende des spannend erzählten Textes in der Schwebe, ob es sich, wie einige der zunehmend panisch werdenden Mitspieler*innen vermuten, um einen alten Fluch handelt, es für alles eine logische Erklärung gibt, oder ein Mörder sein Unwesen treibt... So wird auf knapp 500, in aufwändiger Buchgestaltung verpackten Romanseiten gerätselt, verdächtigt, geliebt, gehungert, und schließlich in an Texte wie "Herr der Fliegen" erinnernder Radikalität (fast) bis zum Äußersten gegangen.
Kathrin Wexberg