Lektorix des Monats für das Jahr 2016
Lektorix
des Monats November 2016
Eduard Torrents und Denis Lapière
Der Treck.
Aus dem Franz. v.
Jacoby & Stuart 2016, S. 124, € 24,70
„Um in Francos Kerkern zu verfaulen“
Ein Mädchen an der Hand ihrer Mutter. Der Vater ist zwei Schritte voraus, in seinen Händen Reisekoffer, die er durch eine verschneite Berglandschaft trägt. Der Blick ist besorgt und nach vorne gerichtet. Hinter der Familie sieht man den titelgebenden Treck, der am Cover der Graphic Novel jene Fluchtbewegung repräsentiert, die vor rund 80 Jahren fast 500.000 Menschen von Spanien nach Frankreich brachte. „Die meisten sprachen davon, aus der Stadt zu flüchten, Barcelona zu verlassen und Spanien zu vergessen”, heißt es in der Figurenrede der Ich-Erzählerin, die rückblickend von der Flucht vor den Franco-Faschisten berichtet. Die Rahmenerzählung von „Der Treck“ setzt 36 Jahre später ein, zeigt die nun erwachsene Angelita in Montpellier, die eines Morgens erfährt, dass ihre Mutter einen Herzinfarkt hatte und in ein Krankenhaus in Barcelona eingeliefert wurde.
Mit filmischen Mitteln erzählt
Bild wie Text behalten die Ich-Perspektive bei, wodurch die Leserinnen und Leser immer nur so viel wissen, wie die Figur selbst. Die naiv-kindliche Erinnerung an die Flucht, aber auch das psychische Innenleben Angelitas tragen dazu bei, dass sich immer wieder Momente der Identifikation aufdrängen. Während der Zugreise nach Barcelona beginnt der Erinnerungsakt, der Kindheit und Flucht parallel führt. Im Text wechseln sich dabei aufgeklärt-analytische Aussagen der erwachsenen Figur mit kindlicher Neugier ab. So stehen sich Fragen wie: „Mama, warum bombardieren uns die Italiener?” und drastische Zusammen-fassungen gegenüber: „Die Flüchtlinge, die sich einverstanden erklärten, freiwillig nach Spanien zurückzukehren, wurden wieder mit ihren Frauen und Kindern vereinigt. Und wozu? Um am Ende in Francos Kerkern zu verfaulen.”
In den klar angeordneten Panels wird auf beiden Ebenen der Erzählung eine sehr spezifische Darstellungsform gewählt, die der personalisierten Erfahrung ebenfalls gerecht wird: Filmtechnik. Oft kommen auf nur einer Seite mehrere Perspektiven zum Einsatz, die so zur Dramatisierung beitragen. Zum Beispiel dann, wenn ein Großteil des Gepäcks zurückgelassen wird: Vogel-perspektive auf den Treck, Zentralperspektive auf die Familie, Close-up auf die Gesichter und abschließend Froschperspektive, die den verwaisten Koffer in den Vordergrund stellt, während sich die Familie wieder in den Menschenstrom einreiht. Darin liegt die Stärke dieser Graphic Novel. Die ästhetischen Mittel führen dazu, dass durch das Schicksal einzelner, das Schicksal vieler Menschen nachvollziehbar und für junge als auch ältere Betrachterinnen und Betrachter verständlich werden kann.
Peter Rinnerthaler
Lektorix
des Monats Juni 2016
Roman von Anne-Laure Bondoux.
Aus dem Franz. v. Maja v. Vogel.
Carlsen 2016, S. 352, € 18,50
Lebenslust und Zuflucht finden
Als Literaturwissenschaftr sollte man am Ende eines Romans eigentlich wissen, auf welcher Grundlage das gute Gefühl beim Schließen des Buchdeckels basiert. Bleibt man nach der Lektüre fasziniert, aber ratlos zurück, kann dies zu einem unruhigen Gemütszustand führen. Vor allem dann, wenn man eine Rezension zu diesem Buch verfassen soll. Zu schreiben, dass man Anne-Laure Bondoux’ neuen Roman „Von Schatten und Licht“ gerne gelesen hat und man sich sicher ist, dass es ein gutes sowie empfehlenswertes Stück Jugendliteratur ist, mag in Kundenbewertungen diverser Shoppingplattformen eine konventionelle Vorgehensweise sein, eine fundierte Buchbesprechung ergibt das noch nicht.
Daher ist es wohl ratsam, die Fakten zu klären, bevor man sich der persönlichen Psychohygiene zuwendet: Der Text ist in vier große Kapitel gegliedert, er enthält fantastische Aspekte, es werden keine geringeren Themen als Liebe, Flucht ins Exil und Erwachsenwerden beleuchtet und erzählt wird die Geschichte einer scheinbar nie enden wollenden Reise aus der Perspektive der jungen Tsell.
Erweiterte Erzählhaltung
Anne-Laure Bondoux stattet ihre Hauptfigur allerdings mit einer erweiterten und sich entwickelnden Erzählhaltung aus. Tsell erzählt die Geschichte ihrer Eltern Hama und Bo in den ersten Kapiteln „allwissend“, geht zu einem teilhabenden „Wir” über und wird im dritten Kapitel zur klassischen „Ich-Erzählerin“: Mit dem Satz „Ich habe nur wenige Kindheitserinnerungen“ legt sie den Fokus schließlich auf sich selbst, nachdem sie einige Seiten zuvor noch einräumte: „Natürlich erinnere ich mich an nichts von alldem.“ Vor ihrer Geburt im Naturraum Wald berichtet sie vom Leben und Lieben ihrer Eltern in einer von Hochindustrie und Armut geprägten Stadt, die wie viele andere Fabriksarbeiter in einem obskuren Varieté Lebenslust und einen Zufluchtsort finden.
So undurchsichtig die Gesellschaft im lebhaften Nachtcafé charakterisiert wurde, umso klarer gestalten sich die Strukturen in einer Parallelwelt mitten im Wald. Dort werden sie Teil einer mehrköpfigen Familie, die eine vertikal angelegte Tunnelwelt tief ins Erdinnere besiedelt, äußerst pragmatisch anstelle von Namen auf aufsteigende Zahlen hören und ihr ganzes Leben eine Funktion übernehmen, um den Erhalt der Familie abzusichern.
Blickt man also auf den Roman zurück, der neben der innovativen Erzählperspektive und den kontrastiv angelegten Gesellschaftsstrukturen auch noch charismatische Figuren in eindrucksvolle Landschaften setzt, wird einem schlussendlich doch bewusst, wie Anne-Laure Bondoux für das gute Gefühl bei und nach der Lektüre sorgt.
Peter Rinnerthaler
Lektorix
des Monats April 2016
Thé Tjong-Khing:
Hieronymus. Ein Abenteuer in der Welt des Hieronymus Bosch
Moritz 2016, S. 48, € 15,40
Von Bosch inspirierte Bildwelt
Grauenhafte Dämonen, bildliche Allegorien und gewalttätige Szenen – die rätselhaften Bildwelten des vor 500 Jahren verstorbenen Malers Hieronymus Bosch sind nicht unbedingt etwas, das auf den ersten Blick eine Nähe zum Bilderbuch aufweist, das oft vordergründig dem Kleinkindalter zugeordnet wird. Und doch hat es der in Indonesien geborene niederländische Illustrator Thé Tjong-Khing gewagt, ein vollkommen textloses Bilderbuch ganz in einer von Bosch inspirierten Bildwelt spielen zu lassen und nur mit einer Rahmenhandlung an die Gegenwart anzubinden.
Am Schmutztitel ist zu sehen, wie ein kleiner Bub sich von einem Haus mit davor geparktem Auto entfernt, vergnügt und unternehmungslustig, begleitet von seinem Hund, ausgestattet mit einigen wenigen Gegenständen: einem Rucksack, einer an den Gürtel gebundenen Schnur, einer Kappe mit roter Feder daran sowie einem Ball. Auf der ersten Seite stürzt er von einer Klippe – um schon auf der nächsten Doppelseite in einer Welt zu landen, die von Bosch’schen Figuren bevölkert ist.
Zurück- und Vorblättern
Hier beginnt sich die Geschichte in mehrere Stränge aufzuteilen, die beim Betrachten, wie auch in Thé Tjong-Khings erfolgreichen Bilderbüchern rund um die Torte, ein ständiges Zurück- und wieder Vorblättern erfordern: Denn die Kappe wird von einem Seeungeheuer geschnappt, diesem aber von einem anderen Wesen entrissen, das auf der nächsten Doppelseite auf einem Baum sitzt.
Das Schicksal der Kappe ist aber nur eine von vielen Geschichten, die es durch genaues Schauen (und Blättern) aufzuklären gilt. Worüber weint der Engel so verzweifelt? Ist die Frau mit dem getupften Kleid (auch sie ist kurz im Besitz der Kappe) nun eine Gute oder eine Böse? Und was hat eigentlich der Hund die ganze Zeit über gemacht – denn auf der letzten Seite laufen Bub und Hund wieder zum Haus zurück.
Während einzelne Bildzitate aus der Kunstgeschichte im zeitgenössischen Bilderbuch sehr häufig sind, kommt es selten vor, dass das gesamte Setting an das Werk eines anderen Künstlers angelehnt ist. Es ist faszinierend, wie Thé Tjong-Khing hier vorgeht: Figuren und Landschaften sind gleichermaßen sehr Tjong-Khing und sehr Bosch.
Hier zeigt sich auf eindrückliche Weise, wie sich das Medium Bilderbuch an ganz unterschiedliche Altersstufen zu richten vermag: Von diesen Bildwelten werden Kinder im Kindergartenalter (so sie nicht zu große Angst vor schaurigen Figuren haben …) genauso fasziniert sein wie Jugendliche, die sich gerade im Kunstunterricht mit Hieronymus Bosch beschäftigen.
Kathrin Wexberg
Lektorix des Monats Februar 2016
Ich denke.
Porträts von Ingrid Godon
mit Texten von Toon Tellegen.
Aus dem Niederl. v. Birgit Erdmann.
München: mixtvision, S. 96, € 30,80
Ein gelungenes Gedankenexperiment
Stellt man einer ins Leere starrenden Person die Frage „Was denkst du gerade?“, wird dies in den meisten Fällen mit einem schlichten „Nichts“ quittiert. Somit dürfte diese Antwort zu jener Kategorie Lüge zählen, die der Mensch unhinterfragt akzeptiert. Ehrliche Antworten auf die zutiefst poetische Frage sind im Bilderbuch „Ich denke“ von Ingrid Godon und Toon Tellegen versammelt. Ob die Bezeichnung Bilderbuch in diesem Fall überhaupt zutrifft ist eine weitere Frage. Das dem A4-Schnitt nahe kommende Hochformat, das auf über 90 Seiten historisch anmutende Porträts aneinanderreiht, erinnert mehr an einen Bildband, der zu repräsentativen Zwecken vorgelegt wird. Als „Coffe Table Book“ darf dieses gelungene Gedankenexperiment in Buchform aber nicht bezeichnet werden.
Dagegen sprechen unter anderem die kursiv gesetzten Miniaturen von Toon Tellegen, deren literarische Qualität in Birgit Erdmanns Übersetzung keineswegs verloren geht. Die kurzen Texte, die fast immer mit den Worten „Ich denke“ eingeleitet werden, heben das Denken auf unterschiedliche Weise auf die Metaebene. Einmal wird über die verschiedenen Arten des Denkens nachgedacht, ein anderes Mal schafft der niederländische Autor komprimierte Denkbilder, die intime Einblicke in die Gedankenwelt eines erzählenden Ichs erlauben. Der dramaturgische Höhepunkt der Denkreflexion folgt auf die Aussage „Ich denke, dass ich es irgendwie herausgefunden habe.“ Das „es“ des Satzes bleibt undefiniert und lässt somit gedanklichen Spielraum für die wunderbaren Momente des Erkennens, des Verstehens, des Begreifens. Ingrid Godon illustriert dieses Hochgefühl auf acht aufeinanderfolgenden Seiten: Man schlägt Purzelbäume, im Sprung werden die Versen aneinandergestoßen und die Arme hinter dem Kopf verschränkt.
Dieses skizzenhafte Intermezzo, das mehrere beseelte Figuren auf engem Raum vereint, unterbricht die zuvor etablierte Anordnung, die das sonst so abstrakte Phänomen Denken in Bild und Text eindrücklich versinnbildlicht: Denn die großformatigen Porträts der Illustratorin werden auf den Doppelseiten stets den literarisierten Gedanken gegenübergestellt und beflügeln so die Assoziationen, die bei der Lektüre initiiert werden. Ingrid Godon stellt ihre Figuren in den Mittelpunkt, vor leere Hintergründe und bleibt auch in der Farbgestaltung mit schwarzen, weißen und roten Tönen zurückhaltend, wodurch dem freien Spiel der Gedanken viel Platz gegeben und jüngeren und älteren Denker*innen Anlass für das Gespräch über (bisher nur) Gedachtes geliefert wird.
Peter Rinnerthaler
Lektorix des Monats Jänner 2016
Sebastien Perez/Benjamin Lacombe:
Superhelden - das Handbuch.
Aus dem Französ. v. Edmund Jacoby.
Berlin: Jacoby & Stuart 2015, S. 92, € 22,60
„Ein Superheld zu sein, ist super!“
Mit dieser enthusiastischen Feststellung führt ein Superheld namens Phospho die Lesenden in die Materie dieses fiktionalen Sachbuchs ein. Visuell begleitet wird die Aufforderung, sich in die Geheimnisse des Superhelden- Berufs einzulesen, von einer ganzseitigen Darstellung, die sich auf das bekannte US-amerikanische Rekrutierungsplakat aus dem Ersten Weltkrieg bezieht, auf dem Uncle Sam auffordert, der Army beizutreten. Das ist nur eines von zahllosen (Bild-)Zitaten und Anspielungen – umfasst die Darstellung doch Superhelden aus unterschied-lichen Zeiten und Regionen. Während die Bücher des französischen Künstlerduos über Elfen (Das Elfenbestimmungs-buch, dt. 2012) und Hexen (Lisbeth, die kleine Hexe/Hexen-almanach, dt. 2009) in einer mehr oder weniger durchgängigen Ästhetik und Textform gestaltet waren, wird hier wild gemixt: Schließlich geht es im Sinne des Handbuch-Charakters ja darum, die künftigen Berufskolleg*innen zunächst auf ihre Eignung zu testen (Der Test: Hast du das Zeug zum Super-helden?), mit grundlegenden Dokumenten vertraut zu machen (Die Charta der Superhelden, verabschiedet 1937) und natürlich durch Lebensgeschichten und Tagebuchauszüge für ihre eigene Laufbahn zu inspirieren. So werden unterschiedliche Aspekte wie Decknamen, Outfit, Typologisierung der Fähigkeiten und verschiedene Superheldencharaktere detailreich in den Blick genommen, systematisiert und erklärt. Die suggestive Kraft von Benjamin Lacombes Bildern zeigt sich ein weiteres Mal eindrücklich in den Augen seiner Figuren – auch wenn diese hier immer wieder hinter enganliegenden Masken versteckt sind. Komplettiert wird das schwergewichtige, auch haptisch ansprechende Buchvergnügen durch die beigelegte 3D-Brille, um Phospho bei seinem Flug durch schwindelerregende Hochhausschluchten zu folgen. Weil auch als Superheld ein wenig Übersicht nicht schaden kann, folgt dem eigentlichen Ende noch ein Super-Inhaltsverzeichnis und ein Super-Namensregister. Ob nun Baron Baryton, Wasp Woman oder Super-Rhino die persönliche Lieblingsfigur wird, es bleibt festzuhalten: „Und vergesst diese schwachsinnigen Umhänge! Wichtig ist nur die Maske und die schreckliche Wirkung von Spinat.“
Kathrin Wexberg